Um die Situation in der Erstaunfahmestelle Horst/ Nostorf etwas anschaulicher zu machen, führen wir heute das Interview mit Lena fort. Gestern erzählte sie vom Anlass des Besuchs am Samstag und der Postkartenaktion, mit der PRO BLEIBERECHT sich zum Thema Erstaufnahme an Frau Schwesig wendet.
Heute sprechen wir mit Lena über die Dublin-Verordnung und die Unterbringungszeiten für Asylsuchende im Dublin-Verfahren.
PBR: Hallo Lena. Schön, dass du nochmal Zeit für uns hast. Ihr wart am Samstag in Horst, wo ihr mit einigen Leuten gesprochen habt. Du hast gestern auch das Thema „Dublin“ angeschnitten. Was genau ist das?
Lena: Im "Dublin-Verfahren" prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ob ein*e Asylsuchende*r gegebenenfalls über ein anderes EU-Land nach Deutschland eingereist ist. Sie überprüfen sozusagen, ob es dafür einen Beweis in Form eines Fingerabdrucks in der EURODAC-Datei gibt. Wenn ja, wird der Asylantrag des jeweiligen Menschen gar nicht erst geprüft. Wenn nein, dürfen die Asylsuchenden ihren Asylantrag in Deutschland stellen.
Wer kurz drüber nachdenkt, wird merken, dass es sehr schwer ist, nach Deutschland zu gelangen, ohne ein anderes EU-Land zu betreten. Eigentlich geht das nur, wenn man mit dem Flugzeug kommt. Diesen vergleichsweise sicheren Reiseweg können sich natürlich wenige Menschen leisten, die aus ihren Herkunftsländern fliehen.
Außerdem betreffen diese Dublin-Verfahren viele Menschen, die bereits Ablehnungen in anderen EU-Ländern bekommen haben und denen von dort aus Abschiebungen in Länder drohen, in die aus Deutschland nicht abgeschoben wird. Die hier sozusagen eine letzte Chance sehen, Bürgerkrieg oder Gewalt zu entkommen. Beispiele wären Afghanistan oder Somalia.
PBR: Was passiert denn mit den Leuten, wenn das BAMF sagt, sie kümmern sich nicht um ihre Asylanträge?
Lena: Abschiebung. Zunächst in das andere EU-Land. Und manchmal Kettenabschiebung von dort aus.
Von einem Freund haben wir gehört, dass ein Bekannter von Horst über Norwegen nach Somalia abgeschoben wurde. Im Juni gab es die erste Sammel-Abschiebung nach Norwegen. Auch darin saßen Leute, die dann z .B. nach Afghanistan abgeschoben wurden.
Die Landesregierung und das BAMF waschen ihre Hände in Unschuld. Sie fühlen sich nicht verantwortlich für die Schicksale der Betroffenen. So nach dem Motto: Wir schieben sie ja nicht in die Krisengebiete ab, sondern in andere EU-Länder. Was die dann machen, ist deren Sache.
PBR: Gibt es denn keine Möglichkeit, Asylsuchende in solchen Situationen zu unterstützen?
Lena: Im Grunde schon. Ein großes Problem dabei ist allerdings, dass die Asylsuchenden im Dublin-Verfahren seit 2016 in den Erstaufnahmelagern bleiben müssen. Das macht es für die betroffenen Asylsuchenden ziemlich schwer, Kontakt zu Unterstützer*innen aufzubauen, Ehrenamtlichen wir Professionellen. Und diesen Kontakt braucht es häufig. Man stelle sich vor: Man ist drei Wochen in einem neuen Land und soll sofort souverän mit den Behörden-Abläufen umgehen können, ohne Sprachkenntnisse, Vorwissen und entsprechende Beratung. Deutsche Behörden sind ja schon für viele Deutsche und Alteingesessene ein Problem - #Amtsdeutsch. Die Grundlage für das ganze ist ein unschönes neues Gesetz - das aber keineswegs so umgesetzt werden müsste und weswegen wir ja auch die Potkartenaktion und den Offenen Brief an die Landesregierung gestartet haben.
Die Menschen können Dublin-Verfahren auch vor Gericht anfechten. Zum Beispiel mit Attesten vom Arzt oder ähnlichen Dokumenten, die besondere Umstände bescheinigen. Die muss man natürlich bekommen und das ist in der Erstaufnahme schwer.
Und das BAMF hat immer die Möglichkeit, freiwillig selbst das Verfahren zu übernehmen. Leider passiert das viel zu selten.
PBR: Warum passiert das so selten?
Lena: Zur genauen Motivation der Behördenmitarbeiter*innen kann ich natürlich nichts sagen, ich arbeite nicht dort.
Strukturell ist es ein großes Problem, dass den Menschen gerade in der Erstaufnahme der Zugang zu Organisationen fehlt, die dabei helfen können, Atteste und Dokumente zu bekommen. Häufiges Beispiel: Fachärzt*innen für Traumata.
Und politisch stehen wir in Mecklenburg-Vorpommern vor dem Problem, dass das „christ-soziale“ Innenministerium es mit christlich und sozial nicht so eng sieht. Sie scheinen gern hohe Abschiebezahlen vorzulegen, um Wähler*innen am rechten Rand zu fischen. Da sind Dublin-Abschiebungen scheinbar sehr willkommen, denn vergleichsweise ist es billiger jemanden nach Italien zu fliegen, als nach Afghanistan. Und gesellschaftlich ist es auch einfacher zu vermitteln: Während es zum Beispiel gegen Abschiebungen nach Afghanistan viele Proteste gab, kennen die meisten Leute Italien, Bulgarien oder Schweden eher aus dem Urlaub. Dass Asylsuchende dort und in vielen anderen Ländern jedoch oft auf der Straße leben müssen, unter menschenunwürdigen Bedingungen, ist wenigen Leuten bewusst.
PBR: Es gibt derzeit die Überlegungen auf EU-Ebene das Dublin-System nocheinmal zu verschärfen. Was steckt dahinter?
Lena: Die EU möchte gerne Migrationsbewegungen, wie sie etwa 2015 stattgefunden haben, unterbinden. Und sie setzen dabei auf Abschreckung. Die Idee ist: Wer im nächsten Land nichts zu gewinnen hat, bleibt im ersten Land. Deswegen wollen sie alle Fristen und damit Möglichkeiten, den Asylantrag doch nicht im ersten Land der Durchreise zu stellen, aus der Dublin-Verordnung streichen. Mit sogenannten Hotspots, die sie in den Ländern an den Außengrenzen einrichten, machen sie es in den letzten Jahren zunehmend schwerer nicht erfasst zu werden.
Gesellschaftlich betrachtet ist das natürlich Quatsch. Was uns 2015 gezeigt hat, ist, dass Asylsuchende meistens sehr genau wissen, warum sie in ein bestimmtes EU-Land wollen: Sprachen, die sie sprechen; Integrationschancen, die sie sehen; und Unterstützung, die sie von Freund*innen, Familie oder der Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern erhalten. Das sind natürlich alles Faktoren, die Armut, Arbeitslosigkeit, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit entgegenwirken. Und sollte Politik in demokratischen Ländern nicht genau das für alle Menschen im Sinn haben?
PBR: Diese Frage ist eigentlich ein schönes Schlusswort. Morgen werden wir mit dir noch einmal über die Unterbringungsdauer in den Erstaufnahmen sprechen. Mit Blick auf die Menschen, die nicht im Dublin-Verfahren stecken.
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