Asylsuchende nicht über längere Zeit in Erstaufnahmeunterkünften unterbringen
Am 2. November schickte PRO BLEIBERECHT einen Offenen Brief an Vertreter*innen der demokratisch orientierten Parteien der Landesregierung. In diesem Brief fordern ehrenamtliche Unterstützer*innen Geflüchtete so kurz wie möglich in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes unterzubringen.
„Was uns neu angekommene Asylsuchende aus den Erstaufnahmeeinrichtungen erzählen, heißt für uns ganz klar: So schnell wie möglich raus dort!“, so Rena Sakowski von PRO BLEIBERECHT. „Massenunterbringung ist nie gut: Sie verhindert, dass Menschen Anknüpfungspunkte an die neue Gesellschaft finden. Sie verursacht Stress und ist für alle, die das erleben mussten eine pure Zumutung.“
PRO ASYL hatte die Vorlage für den Offenen Brief geliefert. Anlass war die Gesetzesänderung von Ende Juli. Seitdem dürfen die Landesregierungen entscheiden, ob sie Asylsuchende bis zu zwei Jahre in einer Erstaufnahmestelle unterbringen. In Mecklenburg-Vorpommern liegen diese Aufnahmeeinrichtungen in Horst bei Boizenburg und in Sternbuchholz bei Schwerin.
Mehr Informationen zur Unterbringung in Erstaufnahmelagern finden Sie hier und hier.
Der offene Brief an die Politik
Sehr geehrte Frau Schwesig,
sehr geehrte Frau Drese,
guten Tag Herr Caffier,
sehr geehrte Damen und Herren der Landesregierung,
wir wenden uns heute aus einem besonderen, dringlichen Anlass an Sie: Wir sind besorgt über aktuelle Planungen einiger Bundesländer, nach denen Asylsuchende künftig bis zu zwei Jahre in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben und nicht mehr zur Aufnahme in die Kommunen verteilt werden sollen. Mit der Einführung des §47 Abs. 1b des »Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« wurde es den Ländern überlassen, Asylsuchende zu einem Aufenthalt in den Erstaufnahmezentren von bis zu zwei Jahren zwangszuverpflichten. Die dauerhafte Ausgrenzung von Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtungen, zentralen Unterbringungseinrichtungen u. ä. hat weitreichende negative Folgen, sowohl für die betroffenen Flüchtlinge als auch für Länder und Kommunen.
Wir fordern Sie auf, die dauerhafte Unterbringung in den Erstaufnahmestellen Horst und Stern-Buchholz politisch zu verhindern und auch die Aufenthaltsdauern für diejenigen, die dort bereits dauerhaft untergebacht sind (sog. „Sichere Herkunftsländer“ und Dublin-Betroffene) drastisch zu verkürzen. Die Initiative PRO BLEIBERECHT in Mecklenburg-Vorpommern möchte Ihnen im mit diesem offenen Brief die Folgen von Massenunterbringung in Erstaufnahmestellen darlegen.
Es kann nicht im Interesse des Landes sein, Asylsuchende dauerhaft in Großunterkünften außerhalb der Kommunen zu isolieren und sie dadurch vom Kontakt zur hier lebenden Bevölkerung auszuschließen. Vorbehalte und Ängste nehmen zu, wenn statt eines einzelnen Menschen und seines Schicksals nur noch eine anonyme Menge Flüchtlinge wahrgenommen wird.
Mit der Isolierung von Flüchtlingen, hinter Zäunen und Stacheldraht, sendet die Politik überdies ein überaus problematisches Signal an die Bevölkerung: Flüchtlinge scheinen gesellschaftlich nicht zugehörigig und als Sicherheitsproblem. Die ohnehin besorgniserregenden Vorbehalte eines Teils der Bevölkerung werden dadurch verstärkt, existierende flüchtlingsfeindliche Haltungen bestätigt. Dem gesellschaftlichen Frieden ist damit nicht gedient. Probleme für die Zukunft sind vorprogrammiert, mehr noch: In Großunterkünften leben die Bewohner*innen geradezu auf dem Präsentierteller für Anfeindungen und Anschläge.
Großunterkünfte für Flüchtlinge sind stigmatisierende Zeichen der Ausgrenzung. Bundesländer, die bis heute auf die Verteilung in die Kommunen und wo immer möglich auch die Unterbringung in Wohnungen gesetzt haben, sind auch in dieser Hinsicht gut gefahren.
Gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo die AfD 2016 die CDU mit ihrem Wahlergebnise überholt hat, gilt es, eine demokratische Grundhaltung nicht nur zu predigen, sondern auch durch die politische Haltung vorzuleben. Studien zeigen, dass Rassismus und Vorurteile dort am wenigsten Chancen haben, wo Menschen direkten Kontakt mit dejenigen haben, gegen die sie Stimmung machen.
Bitte führen Sie sich die empirische Erkenntnis der vergangenen Jahrzehnte vor Augen: Ein erheblicher Teil derjenigen, die künftig in der Erstaufnahme langfristig festgehalten werden sollen, wird in Deutschland bleiben.
Die Begründung für die Isolierung – eine angeblich »schlechte Bleibeperspektive« – ist alles andere als stichhaltig: Diese Vorabeinstufung lediglich auf Grundlage der aktuellen Anerkennungsquote des Bundesamtes für das jeweilige Herkunftsland erweist sich tatsächlich häufig als falsch. Eine BAMF-Anerkennungsquote von – wie etwa derzeit bei Afghan*innen – offiziell rund 47% bedeutet für 100% der ankommenden Afghan*innen eine »schlechte Bleibeperspektive« – also eine falsche Einordnung in schon einmal annähernd der Hälfte der Fälle. Gerade Afghan*innen haben bei einer Klage gegen den Asylbescheid in rund 60% der Fälle große Chancen auf Erfolg. Insgesamt haben 47% aller Asylsuchenden, die vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen den BAMF-Bescheid einlegen, Erfolg – ein weiteres Indiz, dass die vorab definierte Bleibeperspektive kein Kriterium sein kann. Die statistische Grenze, nach der sich die angeblich gute Bleibeperspektive bemisst, ist fragwürdig und zudem rechtlich nicht definiert. Sie widerspricht dem Charakter eines fairen, unvoreingenommenen Asylverfahrens, in dem individuelle Fluchtgründe geprüft werden.
Die Kategoriebildung entlang nationaler Kritierien ist einseitig und wird insbesondere vulnerablen Gruppen, also besonders schutzbedürftigen Menschen, nicht gerecht. Frauen, Schwule, Lesben, Trans, Inter*, soziale und politische Minderheiten oder Menschen mit Behinderung haben für gewöhnlich weit bessere Chancen im Asylverfahren und meist einen größeren Bedarf aus den Sammel-Einrichtungen umverteilt zu werden. Wie absurd die Kategorie „Bleibeperspektive“ ist, die sich lediglich auf nationale Zugehörigkeit beschränkt, wird hier exemplarisch deutlich.
Aus weiteren Gründen erweist sich der Ausschluss von Flüchtlingen anhand der so genannten »schlechten Bleibeperspektive« häufig als falsch: Zahlreiche Menschen, die nicht in die Kategorie »gute Bleibeperspektive« sortiert werden, erhalten später ein Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen – und selbst, wenn nicht: Auch angesichts der zu erwartenden langen Asylverfahren vor den Verwaltungsgerichten und angesichts der Tatsache, dass viele schutzsuchende Menschen aus vielerlei Gründen zumindest für mehrere Jahre in Deutschland bleiben werden, macht ihre Isolation und Ausgrenzung keinen Sinn, von den humanitären Argumenten ganz abgesehen. Auch bei Dublin-Fällen kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle in den Ersteinreisestaat überstellt werden. Tatsächlich wurden im ersten Halbjahr 2017 nur 3.085 Überstellungen durchgeführt, trotz über 21.500 vorliegender Zustimmungen durch die aufnehmenden Staaten. In vielen Fällen stoppen Gerichte die Überstellung, weil Schutzsuchende bei einer Überstellung in EU-Randstaaten Elend und Obdachlosigkeit ausgesetzt würden.
All dies zeigt: Es ist eine Illusion zu glauben, diejenigen, die man zu Menschen mit angeblich »schlechter Bleibeperspektive« erklärt, würden innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren das Land wieder verlassen. Mit dieser Erkenntnis stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Folgewirkungen einer Isolation – die Frage nach der Integration.
Die Erfahrungen der 1990er und 2000er Jahre haben deutlich gezeigt, dass eine Unterbringung in isolierten Großunterkünften zu erheblichen Problemen führen kann und eine desintegrative Wirkung hat. Im schlimmsten Fall werden – insbesondere auch durch diskriminierende Begleitregelungen wie Residenzpflicht, Bargeldentzug etc. Integrations- und Teilhabechancen, aber auch Selbsthilfefähigkeiten, Produktivität und seelische Gesundheit mit der Dauerunterbringung in Erstaufnahmen erheblich angegriffen oder gar zunichte gemacht.
Erstaufnahmezentren, die lediglich, wie ihr Name es auch nahelegt, der logistischen und administrativen Bewältigung der Erstaufnahmesituation und ersten Orientierung der Ankommenden dienen sollten, werden auf diese Weise zu Desintegrationszentren, in denen Flüchtlingen über lange Zeit hinweg der Zugang zu Schule, Arbeit, neuen Nachbarn, Ehrenamtlichen versperrt wird.
Wer zwei Jahre isoliert ist, lernt nur schwer die deutsche Sprache. Der behinderte Aufbau sozialer Kontakte führt unter Umständen sogar dazu, dass Flüchtlinge in ihrem zentralen Anliegen und Recht auf ein faires Asylverfahren keine angemessene Hilfestellung bekommen.
Auch der Zugang zu unabhängigen Beratungsstrukturen oder Rechtsanwält*innen wird durch die Isolation massiv erschwert. Wer kein Geld hat und der Residenzpflicht unterliegt, der wird an vielen Orten keine Chance haben, sich nach einem Rechtsanwalt umzuschauen. Rechtsanwält*innen werden nicht in gebotenem Maße ihrerseits Beratung und Hilfestellung in teilweise abgelegenen Unterkünften anbieten können, so dass dem Rechtsschutz nicht genüge getan werden kann. Dieser faktische Ausschluss vom Zugang zu Rechtsmitteln scheint bedauerlicherweise in einigen Bundesländern geradezu gewollt. Wer doch rechtlichen Beistand findet und gegen eine Entscheidung vor Gericht zieht, den erwarten bei der aktuellen Überlastung der Verwaltungsgerichte weitere Jahre im Lager.
So zeigt es auch das Beispiels Horts bei Boizenburg: Ein Besuch beim Anwalt/ Anwältin wird zum teuren Luxus, wenn er mindestens 4,80€ von 135€ Regelsatz kostet. Unabhängige Beratungsstellen haben bis heute keinen Zugang zum Gelände, sondern werden auf den sog. „vorgelagerten Wohnbereich“ verwiesen – wo zwischen ihnen und den Ratsuchenden ein Stacheldraht und die Abgabe der Personalien beim Sicherheitsdienst des Lagers steht. Anonyme und leicht zugängliche Beratung sieht anders aus.
Vor Ort und in den Kommunen sind es oft ehrenamtliche Helfer*innen, die Asylsuchende dabei unterstützen, Kontakt zu Anwält*innen herzustellen. Mit beschränktem Zugang für Ehrenamtliche zu isolierten Erstaufnahmezentren entfällt diese Unterstützung. Dieser sollte in beiden Erstaufnahmestellen in MV strukturell ermöglicht und nicht erschwert werden.
Die Zahl der Fehlentscheidungen des BAMF ist hoch. Ohne Hilfestellung, ohne Rechtsschutz wird davon auszugehen sein, dass vermehrt auch diejenigen keinen Schutz mehr erhalten, denen er zusteht. Es wird schwieriger, Fehlentscheidungen des BAMF zu korrigieren.
Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass die Quote der Anerkennungen und Ablehnungen von Bundesland zu Bundesland variiert (vgl. Riedel/Schneider, 2017). Dass es sich also keineswegs um objektive Entscheidungen handelt, wird aus der Statistik deutlich. Grade in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Anerkennungsquoten im bundesweiten Vergleich eher niedrig sind, deutet dies auf einen erhöhten Beratungsbedarf. Denn Antragstellungen vor deutschen Behörden müssen vorbereitet sein – gerade, wenn die Antragstellenden die Abläufe und Bedingungen der Verfahren nicht kennen.
In besonderer Weise inakzeptabel ist die Isolierung für die besonders Schutzbedürftigen. Offenbar sollen auch Minderjährige bzw. Familien mit Kindern nicht von der Dauerunterbringung ausgenommen werden. Für Kinder und Minderjährige ist das Wohnen in Erstaufnahmeeinrichtungen mit erheblichen Nachteilen für ihr psychisches und physisches Wohl verbunden. Dies widerspricht dem Recht junger Menschen, »auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Dies gilt umso mehr, als dass nach wie vor eine flächendeckende kindgerechte Unterbringung nicht gewährleistet ist. Dies ist mit der UN-Kinderrechtskonvention wohl kaum in Einklang zu bringen.
Minderjährige haben oftmals keinen oder nur einen sehr reduzierten Zugang zu Bildung während der Unterbringung in der Erstaufnahme, da in der Mehrzahl der Bundesländer die Schulpflicht an das Verlassen der Aufnahmeeinrichtung bzw. der landesinternen Zuweisung anknüpft. Dies steht im Widerspruch zu Art. 14 der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU). Hiernach müssen Kinder spätestens nach drei Monaten die Möglichkeit des Schulgangs haben: »Der Zugang zum Bildungssystem darf nicht um mehr als drei Monate, nachdem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Minderjährigen oder in seinem Namen gestellt wurde, verzögert werden.« In einigen Bundesländern erleben wir, dass statt Schule eine Art reduzierter Pseudo-Schulunterricht angeboten wird. Dies kann nicht als Erfüllung der oben genannten Vorgaben angesehen werden.
So ist es unserem Kenntnisstand nach auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Horst und Stern-Buchholz.
Zu den besonders von den negativen Folgen betroffenen Gruppen gehören auch traumatisierte Menschen. Sie werden im deutschen Asylsystem nach wie vor häufig nicht erkannt und sind damit den für sie besonders unzuträglichen Lebensbedingungen besonders ausgesetzt. Die Isolierung hat enorme psychische Wirkung. Traumatische Erfahrungen durch Verfolgung und Flucht lassen sich isoliert in Großlagern kaum überwinden. Es besteht statt dessen die Gefahr, dass die Menschen depressiv, apathisch werden – und es nach einer positiven Entscheidung im Asylverfahren umso schwieriger ist, sie dabei zu unterstützen, auf eigenen Füßen zu stehen, ein neues Leben zu beginnen.
In Mecklenburg-Vorpommern fehlt es ohnehin an Psycholog*innen und therapeutischem Personal. Die Unterbringung in Massenlagern verstärkt zusätzlich den Therapiebedarf, da durch die Risiken und Nebenwirkungen Traumata verstärkt oder aktualisiert werden können. Übernehmen Sie hierfür Verantwortung: Wer vor Krieg oder politischer Verfolgung flieht, wer durch Libyen reist und das Mittelmeer überquert, hat genug zu verarbeiten. Ohne es zu müssen, sollte man niemandem eine dauerhafte Unterbringung in einer Erstaufnahmestelle zumuten.
Wir verkennen nicht die Probleme, die in manchen Kommunen durch die Aufnahmeverpflichtung für Asylsuchende bestehen. Sie sind aber nicht dadurch lösbar, dass man die Schutzsuchenden länger in einer unzuträglichen und humanitär nicht vertretbaren Aussonderung in der Erstaufnahme festhält.
Kommunen müssen verstärkt dabei unterstützt werden, Schutzsuchende menschenwürdig unterzubringen und den Anschluss zu Ehrenamtlichen und den Kontakt zur Bevölkerung zu ermöglichen. Nur so können Berührungsängste abgebaut werden und Integration gelingen.
Wir bitten Sie dringend, von allen Plänen zur langfristigen Zwangsunterbringung von Schutzsuchenden in der Erstaufnahme Abstand zu nehmen und stattdessen ein in die Zukunft weisendes, integratives Konzept zur Flüchtlingsaufnahme anzugehen, dass Schutzsuchende angemessen behandelt und der Gesellschaft dienlich ist.
Mit freundlichen Grüßen,
PRO BLEIBERECHT in Mecklenburg-Vorpommern, e.V.i.G.
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