Bei der Gedenk-Demonstration "Antifaschismus und Antirassismus organisieren" für Mehmet Turgut am 24. Februar 2024 in Rostock haben wir einen Redebeitrag gehalten. Lest ihn hier.
Wir erinnern heute an Mehmet Turgut. Wir hätten uns gewünscht, dass wir die heutige Rede bereits am Mehmet-Turgut-Weg halten. Das tun wir leider nicht, denn die Hansestadt hat es nicht geschafft dieser einfachen Forderung von Mehmets Familie nachzukommen. Sie hatte dafür 10 Jahre Zeit.
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder die Formel "Erinnern heißt verändern" wiederholt, die die Angehörigen und Überlebenden aus Hanau ins Zentrum der Gedenkpolitik setzen. Die fehlende Umbenennung des Neudorekower Wegs zeigt uns, dass das Erinnern für die breite Gesellschaft keineswegs selbstverständlich ist. Wenn wir an die Opfer rassistischer Morde erinnern, ist allein diese Praxis ein Widerstand gegen die rassistische Ignoranz, die unsere Gesellschaft durchzieht. Mit dem Erinnern fordern wir die bürgerliche Mitte der Gesellschaft auf, sich mit dem Rassismus auseinander zu setzen, der den Nährboden für rechte Gewalt und rechten Terror bildet.
Dies gelingt nicht immer. So empfand beispielsweise das Schweriner Bündnis "für alle" einen Redebeitrag, den wir zum Gedenken an Mehmet Turgut angeboten hatten, vergangenen Dienstag für unnötig. Die Demokratie-Demos bergen - wie das höchstoffoziell geführte Gedenken an Mehmet - die Gefahr Rassismus an den rechten Rand zu schieben und damit sich selbst (die gute bürgerliche Mitte) davon freizusprechen.
Doch Rassismus durchzieht unsere Gesellschaft. Er ist weithin akzeptiert und wird weithin vertreten. Damals wie heute.
Geflüchtete aus allen Ländern erleben das hier in Mecklenburg-Vorpommern als eine tägliche Herausforderung. Zu rassistischen Übergriffen gehört das Verhalten einiger Mitarbeiter:innen in den Unterkünften für Asylsuchende, in der Bahn und auf der Straße, Kommentare und Bedrohung in Social Media und das Verhalten einiger Behördenmitarbeitender. Anstatt diese Probleme anzugehen, werden beinahe täglich Anti-Asylgesetze verabschiedet, die auch gegen die Menschenrechte gehen.
Wäre Mehmet Turgut heute hier in Rostock, hätte ihn dieser Rassismus mit voller Härte getroffen. Auch Mehmet wäre mitgemeint gewesen, wenn Scholz und Faeser von Abschiebeoffensive reden. Mehmet wäre einer gewesen, der unter den verschärften Bedingungen im Abschiebeknast in Glückstadt gelandet wäre. Mehmet wäre von der Entrechtung und Diskriminierung betroffen gewesen, die in den letzten Asylgesetzverschärfungen stecken, u.a. von der rassistischen Regelung der Bezahlkarte.
Mit dieser Bezahlkarte will die Politik derzeit verhindern, dass Asylsuchende Geld an ihre Familien schicken, ungeachtet der Tatsache, dass hier zusammengespartes Geld für Familien an anderen Orten eine unverzichtbare Hilfe in der Armut ist und viel zu oft das nackte Überleben von diesem Geld abhängt: Lebensmittel, Brennstoffe und notwendige Medikamente. Doch deutsche Sozialleistungen sollen in Deutschland bleiben. Egal, ob deswegen jemand stirbt. Um das Verschicken von Geld zu verhindern, stürzt man Asylsuchende in noch erdrückendere Armut als es das Asylbewerberleistungsgesetz eh schon tut.
Wer diese Bezahlkarte grade in höchsten Tönen lobt und in MV schneller als andernorts vorantreibt, ist Innenminister Pegel. Der wird sich morgen an das Mahnmal für Mehmet Turgut stellen und davon reden wie sehr die deutsche Politik Rassismus verstanden hat. Doch sie hat nichts verstanden. Wenn Erinnern bedeutet: "Wir legen einmal im Jahr einen Kranz nieder, während wir den Rest des Jahres die Gesetze machen, die die Rassisten fordern", der sollte lieber zuhause bleiben bis er wirklich verstanden hat, was er verändern muss.
In Deutschland haben wir angesichts unserer dunklen Vergangenheit die tägliche und umfassende Verantwortung Rassismus weder zu verleugnen noch zu vergessen. Doch Asylsuchende, die gegen die rassistischen Verhältnisse protestieren, hören hier in MV immer wieder eine Antwort: "Geh zurück in dein Land".
Eines dieser Länder, das die Menschen ja aus guten Gründen verlassen, ist die konservativ-rechtsextrem regierte Türkei. Mehmet Turgut verließ die Türkei zu einer Zeit als sich der antikurdische Rassismus täglich in Gewaltexzessen Bahn brach. Heute führt dieser Rassismus zu Masseninhaftierungen und Verfolgung der demokratischen kurdischen Opposition. Es ist scheinheilig, wenn zur morgigen Gedenkveranstaltung der türkische Konsul erscheint. Einen Monat vor den Kommunalwahlen in der Türkei wird er den Mord an Mehmet Turgut nutzen, um zu zeigen wie der türkische Staat dem rassistischen Mord an einem Türken gedenkt. Doch Mehmet war nur deshalb Türke, weil es keinen Pass für ihn als Kurden geben konnte. Der türkische Staat würde keine Sekunde mit dem Gedenken an Mehmet verbringen, wäre er 2004 in Kayalık oder Istanbul von türkischen Faschisten ermordet worden. Im Gegenteil. Der türkische Staat wird derzeit von Faschisten und Islamisten mitregiert und ermordet nahezu täglich Kurd:innen in Rojava und Bashur.
Erinnern heißt verändern. Allem voran heißt das Erinnern zu verstehen, wie Rassismus die Regeln (geschriebene und zwischenmenschliche) unserer Gesellschaft bestimmt. Es heißt, Menschen nicht weiter anhand ihrer Augen- und Haarfarbe zu beurteilen. Erinnern heißt, Rassismus nicht nur in Deutschland zu sehen, sondern zb gemeinsam mit kurdischen Freund:innen an die Verbrechen des türkischen Staates zu erinnern, die dieser seit 100 Jahren begeht.
Verändern heißt, den Rassismus zu bekämpfen - genauso wie die Faschist:innen. In jeder Erscheinungsform, vom rassistischen Alltag bis zum faschistischen Terror, von rassistischen Gesetzen bis zu kolonialen Grenzverläufen.
Verändern heißt, uns gemeinsam mit Genoss:innen aus aller Welt als eine Bewegung zu verstehen, die für die Freiheit und die Würde aller Menschen kämpft. Ja, das klingt groß und abstrakt. Doch der Wille zu einem umfassenden Verändern der gesellschaftlichen Verhältnisse ist eine große moralische Verpflichtung, der wir alle hier folgen.
Für das Leben. Für die Freiheit.
Bo Jiyan, bo Azadî.