Am 22. August haben wir mit der Interventionistischen Linken Rostock die Gedenk-Kundgebung an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 organisiert. Wir dokumentieren hier Redebeiträge, Inhalte und unsere Motivation.
Anliegen der Kundgebung: Kontinuitäten sichtbar machen
Das Pogrom in Lichtenhagen war ein bitterer Höhepunkt des Rassismus zu Beginn der 1990er Jahre. Voraus gingen rechte Gewalt und rassistische Debatten. Es folgten Gesetzesverschärfungen und Abschottung. All das geschieht auch heute. Rassistische Gewalt und institutioneller Rassismus gehen Hand in Hand. Dem entgegen stehen Widerstände, Selbstverteidigung, Protest und Solidarität.
Diese Kontinuitäten wollen wir sichtbar machen. Symbolisch haben wir deshalb den historischen Ort in Lichtenhagen mit dem noch heute in Betrieb befindlichen Erstaufnahmelager Nostorf-Horst verknüpft. Es wird als quasi-AnKER-Zentrum betrieben. Asylsuchende werden hier durch die Zentralisierung des Asylverfahrens und aller beteiligten Behörden systemtisch von der Gesellschaft isoliert. Diese Idee gab es bereits in den Gesetzesverschärfungen der 90er Jahre, in deren Geist Horst entstanden ist. In den vergangenen Jahren wurde die Idee der Isolation weiter umgesetzt, um besser kontrollieren und abschieben zu können.
Wenn wir Rassismus benennen wollen, ist es Teil unserer Verantwortung den Teil der Geschichte sichtbar zu machen, der in der weißen Mehrheitsgesellschaft zu oft vergessen wird: Die Perspektiven derjenigen, die von Rassismus betroffen sind. Auf der Kundgebung in Lichtenhagen sprachen deshalb Dan Thy Nguyen, der sich intensiv mit dem Erleben der betroffenen Vietnames:innen beschäftigt hat, Vertreter:innen des Migrantenrat Rostock, des Roma Center Göttingen und Women in Exile Mecklenburg-Vorpommern. In Horst sprachen (ehemalige) Bewohner:innen und Aktivist:innen, die den institutionellen Rassismus der Lagerpolitik benannten.
So wie Rassismus haben auch Widerstand und Protest Kontinuitäten. Deshalb ist es wichtig, auch die Erinnerung an die Kämpfe der vietnamesischen Betroffenen im "Haus der drei Blumen", der oft vergessenen Asylsuchenden in der ZAST und der Aktivist:innen, die gegen die Ungerechtigkeiten in Horst ihre Stimme erhoben haben, wach zu halten - und viel mehr ins kollektive Bewusstsein zu rücken. Denn diese Perspektiven und Stimmen sind es, die uns im Kampf gegen Ungleichheit und Unterdrückung antreiben müssen.
Redebeiträge
Wir veröffentlichen hier in den kommenden Tagen die Beiträge, die uns von den Redner:innen zur Verfügung gestellt werden.
Die Erklärung von uns: Warum sind wir hier?
Das Pogrom in Lichtenhagen war ein bitterer Höhepunkt des Rassismus zu Beginn der 1990er Jahre. Voraus gingen alltägliche rechte Gewalt auf der Straße und rassistische Debatten in Politik und Medien. Wir sind heute vor dem Sonnenblumenhaus, um an die Konsequenzen dieser Verbindung im August 1992 zu erinnern.
Aber all das geschieht auch heute, denn rechte Gewalt und staatlicher Rassismus gehen Hand in Hand. In Lichtenhagen wurden 1992 hunderte von Menschen zu Helfer:innen von rassistischen Politiker:innen. Nach der jahrelangen Hetze von Politik und Medien setzten sie die politischen Forderungen und rassistischen Schlagzeilen nun in die Tat um. Heute gedenken Poliker:innen bei offiziellem Anlässen dem Pogrom. Doch die gleichen Politiker:innen schweigen gegenüber der menschenunwürdigen Unterbringung von Geflüchteten in Sammellagern. Sie schweigen zu den Toten durch rassistische Polizeigewalt und den Suiziden in Abschiebegefängnissen und Lagern. Die gleichen Politiker:innen lassen weiter Menschen in Länder abschieben, wo sie Armut und Gewalt erwartet.
Als eines der wenigen europäischen Länder hielt Deutschland bis zuletzt an Abschiebungen nach Afghanistan fest. Nach 20 Jahren eines desaströsen Einsatzes der Bundeswehr sieht sich die deutsche Regierung jetzt nicht dazu in der Lage, gefährdete Menschen aus Afghanistan nach Deutschland zu bringen. Wir sagen: Diskriminierung durch den Staat und rechte Gewalt lassen sich nicht voneinander trennen.
Beide sind Teil desselben rassistischen Systems. In Rostock-Lichtenhagen wurde die Aufnahmestelle für Geflüchtete im Sonnenblumenhaus nach dem Pogrom geschlossen. Doch damit hatte die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern unter katastrophalen Zuständen kein Ende. Der Erstaufnahmeeinrichtung in Lichtenhagen folgte sehr bald das Erstaufnahmelager in Nostorf-Horst. Das Lager befindet sich abgelegen an der B5 kurz vor Grenze zu Schleswig-Holstein. Bis heute ist das Lager im Wald, fernab jeglicher Zivilisation dort als Erstaufnahmeeinrichtung in Betrieb. In der Folgezeit des Pogroms wurden Asylsuchende also nicht besser vor rechter Gewalt oder Angriffen auf ihre Unterkünfte geschützt. Stattdessen wurden die Lager in abgelegenen Gegenden und Wäldern eingerichtet. Hier hatten die Geflüchteten keinen Zugang zu lokaler Infrastruktur und keine Möglichkeit, Kontakte zur Bevölkerung zu knüpfen. So sollten sie aus dem Blick der Öffentlichkeit gelangen.
Statt Betroffene wirksam vor rechter Gewalt zu schützen, wurden sie weiter isoliert und ausgegrenzt. Das Lager in Nostorf-Horst steht bis heute symbolisch für diese falsche Reaktion auf rechte Gewalt. Gegen diese Form der Sammellager, rechte Gewalt und rassistische Diskriminierung gibt es seit Jahrzehnten Proteste.
Schon in den 1980er Jahren machten Rom*nja mit Protestcamps, Demonstrationen und Hungerstreiks auf ihre Situation aufmerksam. Während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen organisierten sich die angegriffenen Vietnames:innen und retteten sich schließlich selbst aus dem brennenden Haus. Noch 1992 wurde in Rostock der vietnamesische Verein „Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach“ und der Ausländerbeirat, heute MigrantInnenrat gegründet. Auch gegen die Erstaufnahmeeinrichtung in Nostorf-Horst gibt es seit deren Einrichtung Proteste mit Camps und Mahnwachen. Wenn wir heute an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und an die Kontinuität von rechter Gewalt und staatlichem Rassismus erinnern, dann erinnern wir auch an diese Tradition von migrantischer Selbstorganisation und antirassistischem Widerstand.
Von 1992 bis heute gilt: Erinnern heißt kämpfen! Erinnern heißt verändern!
Dan Thy Nguyen, Regisseur und Essayist, berichtete von den Perspektiven vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen, die sich 1992 während des Angriffs im Sonnenblumenhaus selbst verteidigten und retteten. Er beschäftigte sich im Rahmen einer Recherche intensiv mit ihren Erfahrungen und Biografien.
Hallo alle, die wir hier zusammen stehen, mein Name ist Dan Thy Nguyen und ich bin Leiter des Fluctoplasma Festivals in Hamburg, Theaterreigisseur und Autor. Warum ich heute gefragt wurde zu euch zu sprechen, das liegt daran, dass ich vor mehr als sieben Jahren ein Theaterstück und Hörspiel produzierte, in dem ich die ehemaligen, Lichtenhagen überlebenden, vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen interviewt hatte.
Ich und mein Team, wir waren leider die ersten, welche diese Perspektive so stark in den Fokus gestellt hatten und welche zu dem damaligen Zeitpunkt nahezu völlig vergessen wurde. Ein Beispiel: zum zwanzigsten Jahrestag wurden die Vietnames*innen erst kurzfristig zu der Gedenkveranstaltung eingeladen, und das nur auf Druck der Community und einzelner lokaler Vertreter*innen. Die Stadt und das Land hatten sie schlichtweg vergessen.
Vergessen. Nicht nur die Stadt und das Land hatten sie vergessen. Wir, die hier stehen, dürfen nicht aus den Augen verlieren: Wir stellen trotz aller Bemühungen eine Minderheit in der Gesamtgesellschaft dar. Für den Großteil der Gesellschaft sind Rostock-Lichtenhagen, gar alle rassistischen Anschläge, Morde, Pogrome etc., der letzten Jahrzehnte bedeutungslos.
Auch wenn wir gegen das Vergessen ankämpfen. Jede Person hier mit anderen Mitteln. Dann dürfen wir das nicht aus den Augen verlieren. Der Weg ist noch weit. Und das Vergessen ist groß.
Ich möchte noch etwas sagen. Als ich vor einigen Jahren nach Rostock gekommen bin und dann immer wieder, da war ich als Kind der nächsten Generation gekommen. Als ein Kind südvietnamesischer Boat People, Im Westen Deutschlands sozialisiert, kann und will ich nicht für die Überlebenden hier sprechen. Und egal, ob ich von einer anderen Community aus dem Westen bin, als ich nach Rostock gekommen bin, als ich auch hier im Sonnenblumenhaus saß und Geschichten gehört habe, Geschichten über den Krieg, das Leben in der DDR und die Selbstorganisation im Haus während des Pogroms und danach: Es wurde mir sehr viel Vertrauen entgegengebracht, so, als wäre ich Teil von etwas Gemeinschaftlichen gewesen. Vielleicht sogar eines gemeinschaftlich Vietnamesischen, so als hätte es keinen Krieg in der Vergangenheit gegeben, in der meine Eltern und Großeltern teilweise auf der anderen Seite gestanden hatten. Und dafür kann ich mich nur bedanken.
Eine Lektion noch, die ich von Thinh gelernt habe, ehemalig im Verein Dien Hong tätig und Überlebender des Pogroms: Es ist wichtig zu verstehen, dass wir alle Menschen sind. Und so müssen wir uns alle behandeln. Auge um Auge, Zahn um Zahn, das bringt nichts, meint er. Jeden Tag die Menschlichkeit üben. Das ist die stärkste Waffe gegen die Rechten: Trotz all ihrer Bemühungen, nicht bitter werden. Menschlichkeit ist die stärkste Waffe gegen sie. Und sich tagtäglich in Verständnis und Solidarität üben.
Denn es gibt mindestens zwei Kämpfe, die wir ausfechten müssen. Den einen „Äußeren“ Kampf gegen die rechten Strukturen und gegen das Vergessen, den anderen in uns selbst. Wir, die hier stehen, und häufig Enttäuschungen und Frust in uns tragen. Trotz alledem - Auch das dürfen wir nicht vergessen: Verbittert und Verbrannt nützen wir niemanden. Am wenigsten, denjengien, die uns brauchen. Wenn wir hassen, haben die Rechten gewonnen. Daher jeden Tag weiter machen. Jeden Tag sich im Menschsein üben. Jeden Tag Kritisch, Achtsam und Solidarisch sein.
Vielen Dank
Seyhmus Atay-Lichtermann vom Migrant:innenrat Rostock sprach über die Forderung des Migrant:innenrats ein Rede- und Stimmrecht in der Rostocker Bürger:innenschaft zu bekommen. Als Lichtenhäger Junge erlebte er das Klima der 2000er Jahre im Stadtteil.
Das Roma Center Göttingen machte auf die Situation der Rom:nja aufmerksam, die Anfang der 90er in Deutschland Asyl suchten und sowohl in ihren Herkunftsländern als auch hier rassistischen Gewaltexzessen ausgesetzt waren.
Während dort die Kriege begannen, wurden Rom*nja abgeschoben und gerieten zwischen den Fronten. In Deutschland, gerade wiedervereinigt, gab es eine breite Stimmung gegen Geflüchtete, die sich auch in Gewaltexzessen äußerte. Der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen war einer davon. Dass unter den Menschen, die dort attackiert wurden, viele Rom*nja waren, ist weitgehend unbekannt. Der Pogrom entstand nicht aus dem Nichts, sondern ist das Ergebnis der von Politik und Medien geschürten Stimmung gegen Geflüchtete und des wieder zunehmenden Nationalismus und Rassismus im Land.
Der Umgang mit den geflüchteten Rom*nja war dabei von besonderem Rassismus geprägt, denn er hat in Deutschland seit Jahrhunderten Tradition. So mussten g eflüchtete Rom*nja vor der Zentralen Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen ohne jede Versorgung und ohne sanitäre Anlagen kampieren, was seitens der Politik mit der „Rom*nja-Kultur“ gerechtfertigt wurde. Die menschenunwürdigen hygienischen Zustände wurden dann nicht der Politik angelastet, sondern den Rom*nja selbst und schürten weiteren Rassismus.
Ein direktes Ergebnis des Pogroms war nicht die Solidarität mit den Angegriffenen, sondern ein Rückübernahme-Abkommen mit Rumänien. Nur einen Monat nach dem Pogrom wurde es abgeschlossen, um Rom*nja leichter abschieben zu können. Nicht nur Rom*nja, die aus Rumänien geflüchtet waren, wurden dorthin abgeschoben, sondern auch Rom*nja aus Jugoslawien. Aber auch nach Jugoslawien wurden Rom*nja abgeschoben. Dort hatten gerade die Kriege begonnen und die Rom*nja gerieten zwischen die Fronten der Krieg führenden Parteien. Seit mehr als 30 Jahren kämpfen Rom*nja um ein Bleiberecht in Deutschland. Die Deutschen und ihre Verbündeten haben Rom*nja im Zweiten Weltkrieg in einem europaweiten Genozid vernichtet. 1999 hat sich Deutschland am Überfall auf Jugoslawien beteiligt. Nach diesem Krieg, dem Kosovokrieg, wurden fast alle der 150.000 im Kosovo lebenden Rom*nja von den Kosovoalbaner*innen vertrieben.
Bis heute übernimmt Deutschland keine Verantwortung für seine Vergangenheit. Weder für den Holocaust, bei dem 1,5 Millionen Rom*nja ermordet worden sind. Noch für die Beteiligung am Kosovokrieg und die anschließenden ethnischen Säuberungen gegen Rom*nja unter den Augen der stationierten Truppen und Organisationen. Stattdessen gab es Rückübernahme-Abkommen mit den Balkanstaaten, die Einstufung dieser Staaten als sicher und die weitere Stigmatisierung von Rom*nja als Wirtschaftsflüchtlinge. Bis heute sind Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben oder gar hier geboren und aufgewachsen sind, nicht sicher vor Abschiebung.
Vor kurzem wurde z.B. ein Rom*nja-Ehepaar, das seit 30 Jahren in Göttingen lebte, abgeschoben. Obwohl sie aus dem Kosovo geflohen waren, wurden sie nach Serbien abgeschoben. Die Kinder und Enkel der beiden leben in Göttingen und sind verzweifelt. Im Dezember wurde ein junger Rom, der in Göttingen geboren ist, abgeschoben. Obwohl seine Eltern aus dem Kosovo geflohen waren, wurde auch er nach Serbien abgeschoben. Seine ganze Familie, seine Freundin und kleine Tochter leben in Göttingen. Ganz Europa erlebt seit Jahren einen massiven Rechtsruck. Rom*nja werden von Politikern zu Sündenböcken gemacht, Rom*nja werden abgeschoben und ihre Siedlungen werden geräumt. Rassistische Mobs demolieren die Siedlungen. In Brasilien ermordet die Militärpolizei Dutzende Rom*nja. In Tschechien hat ein Polizist 6 Minuten lang auf Stanislav Tomas Nacken gekniet, bis er tot war. Das Video dieses Polizeimordes hat keine Welle der Solidarität wie nach dem Mord an George Floyd ausgelöst.
Wir fordern, dass Rom*nja, die rassistische Angriffe überleben, einen sicheren Aufenthalt bekommen.
Wir fordern, dass Deutschland für seine Vergangenheit endlich Verantwortung übernimmt und Rom*nja in Deutschland ein Bleiberecht gibt.
Zwei Aktivistinnen von Women in Exile Mecklenburg-Vorpommern sprachen über Alltagserfahrungen in Rostock, über Solidarität, die sie sich wünschen, und die aktuelle Lage der Frauen nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. In einem Audio-Beitrag schilderten Women in Exile zudem ihre Enttäuschung über die Erinnerungsstele, die in einer versteckten Ecke neben dem Sonnenblumenhaus unter dem Titel "Selbstjustiz" seit 2017 an das Pogrom erinnern soll. Es gleiche mehr einem Aschenbecher als einem würdigen Erinnern.
Cindy Hader von der Uni Chemnitz berichtete über die Entstehungsgeschichte des Aufnahmelagers Nostorf-Horst Anfang der 90er. Das Lager steht beispielhaft für die Asylgesetzverschärfungen der 90er Jahre, in denen die Bundes- und Landesregierung auf Isolation der Asylsuchenden setzte, statt Rassismus wirksam zu bekämpfen.
Die rassistischen Ausschreitungen in Rostock/Lichtenhagen und vor allem die Frage nach dem „Danach“ – was nach dem „Wegeschaffen“ der Betroffenen im Hinblick auf die Unterbringung von Asylsuchenden in M-V passiert ist – bringt uns (über ein paar Umwege) zum Geflüchtetenlager in Nostorf/Horst.
Wem der Ort nichts sagt: Horst ist ein Stadtteil der Gemeinde Nostorf, die im westlichsten Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Boizenburg und Lauenburg (Schleswig-Holstein) liegt. Während der deutschen Teilung von 1949 bis 1990 lag Nostorf/Horst damit im Grenzgebiet zwischen Bundesrepublik und DDR. Das Geflüchtetenlager in Nostorf/Horst wurde am 1. April 1993 in Betrieb genommen und befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Grenzkaserne der NVA. Die Einrichtung ist mit einer Kapazität von 650 Plätzen ausgewiesen und bis heute eine der zwei „Erstaufnahmeeinrichtungen“ (seit April 2019 de facto als Anker-Zentren betrieben) des Landes M-V. Die zweite befindet sich seit Sommer 2015 in Stern Buchholz bei Schwerin, ebenfalls auf dem Gelände einer ehemaligen NVA-Kaserne.
Was hat Rostock/Lichtenhagen jetzt mit Nostorf/Horst zu tun? Oder: Warum ist es grundsätzlich wichtig und relevant sich mit der weiteren Unterbringung von (Flucht-)Migrant:innen nach dem Pogrom zu beschäftigen?
Zusammen mit dem Blick auf das „Davor“ (Wie oft wurden vor den Angriffen in Lichtenhagen bereits rassistische Gewalttaten bagatellisiert und als „Rowdytum“ abgetan? Wie fest verankert war institutioneller Rassismus bereits Jahre und Jahrzehnte vor dem Pogrom?) zeigt uns auch der Blick auf das „Danach“, dass die Ausschreitungen in Rostock/Lichtenhagen ein Teil von rassistischen Kontinuitätslinien sind und mitnichten der „große rassistische Bruch“ in einem ansonsten rechtmäßigen – und vor allem gerechten – System.
Denn: Auch nach dem 24. August 1992 (dem Tag, beziehungsweise der Nacht der Räumungen) gingen Diskriminierung, Unrecht und Rassismus gegen Asylsuchende und ehemalige Vertragsarbeiter:innen ganz ähnlich weiter. Dass dies in unserer „allgemeinen Erinnerung“ kaum Beachtung findet, hat viel mit Praktiken der Unsichtbarmachung zu tun. Diese begegnen uns vor allem in den „klassischen Quellen“ unseres „klassischen Gedenkens“. Im Bezug auf Lichtenhagen wird das besonders deutlich, wenn man einen Blick in die Archive wagt und sich fragt: Was steht eigentlich in archivierten Polizeiberichten? Was steht in Berichten den Innenministeriums? Was steht in archivierten Zeitungsartikeln, Presseberichten und Beschlüssen? Wer spricht dort über wen und wie?
Im Hinblick auf die Unterbringung nach dem Pogrom erzählen diese Dokumente grob und lückenhaft zwei Dinge: Zum einen, dass einige Asylsuchende auf irgendwelche Unterkünfte in irgendwelchen umliegenden Kommunen verteilt wurden. Wie jedoch diese Verteilungen stattgefunden haben, wie darüber entschieden wurde, wer auf welche Unterkünfte verteilt wird, wie die Unterbringungsbedingungen dort aussahen, wie lange die Menschen dort bleiben mussten und wie sich das für sie gestaltet hat – all dies wurde nicht dokumentiert. Im Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses heißt es lediglich: „Ca. 200 Bewerber wurden auf Städte und Kreise verteilt.“ Nicht mehr. Als wären die Leute vom Erdboden verschwunden.
Zum anderen wurde am 23. August 1992, also mitten in den Ausschreitungen, die seit Mai 1992 geplante Aufnahmestelle in Hinrichshagen, einem ländlichen Stadtteil im Nordosten Rostocks, in Betrieb genommen. Das als Übergangslösung gedachte Lager befand sich ebenfalls auf der Liegenschaft einer ehemaligen NVA-Kaserne, nahe einer kleinen Wohnsiedlung und war für ca. 600 Menschen ausgelegt. Auf dem Weg einen dauerhaften Standort für die neue Aufnahmestelle zu finden, bildete Hinrichshagen damit den einen „ersten Schritt der Auslagerung“. Die Bedingungen waren auch dort schon schlecht: Massenunterbringung in Kasernengebäuden, Überbelegung (knapp zwei Wochen nach den Ausschreitungen mussten rund 900 Asylsuchende in Hinrichshagen wohnen), Isolation und schlechte Infrastruktur.
Letzterer war es sogar geschuldet, dass es zu Todesfällen unter den Bewohner:innen kam: Auf dem Weg zum Lager oder vom Lager weg musste kilometerweit eine Landstraße passiert werden, die über keine Gehwege verfügte. Bei Autounfällen kamen hier mindestens zwei Menschen zu Tode. Alles in allem: Schreckliche Lebensbedingungen.
Wie sich allerdings Bewohner:innen dazu positioniert haben, wie sie diese Auslagerung erlebt haben, was sie kritisiert und gefordert haben – davon steht nirgends etwas. Was in den Berichten und Protokollen allerdings immer und immer wieder thematisiert wird: Die Sorgen und Beschwerden der Anwohner:innnen, die Angst der Anwohner:innen vor „Rowdies und Chaoten“ (denn auch das haftet dem „Wegschaffen“ an: die irrsinnige Vorstellung, Migrant:innen seien selbst verantwortlich für die Gewalttaten auf den Straßen und in den Wohngebieten und nicht die Rassist:innen, Neo-Nazis und Wutbürger:innen, die sie verüben), Anwohner:innenversammlungen, Beschwichtigungsversuche durch Lokalpolitiker:innen. Alles sorgfältig festgehalten und dokumentiert.
Und das führt letztendlich dazu, dass in unserer „allgemeinen Erinnerung“ Geschichten von Passivität und Unsichtbarmachung fortgeschrieben werden: „den einen“ wird eine Stimme, eine Perspektive, das Recht zu Kritik und Sorge zugebilligt, „den anderen“ nicht.
In einem Beschluss vom 20. Oktober 1992, zwei Monate nach dem Pogrom, beschloss das Landeskabinett letztendlich über die Einrichtung eines Landesamtes für Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten in Nostorf/Horst. Damit wurde erstens eine Landesbehörde ins Leben gerufen, die es so zuvor in M-V nicht gab, zweitens fiel mit dem Beschluss die Entscheidung für das Gelände der ehemaligen Grenzkaserne bei Nostorf/Horst als langfristigen Standort der neuen Aufnahmestelle. Unter den Gründen für Nostorf/Horst werden im Kabinettsbeschluss die abgeschiedene Lage, die gute Personalgewinnung durch die Nähe zu Schleswig-Holstein, die schnelle Anforderung von Sicherheitskräften und die Größe des Verwaltungsgebäudes genannt.
Kein einziger Grund bezieht sich auf die Menschen, die fortan für Monate und Jahre dort leben müssen. Was wir vielmehr aus diesem Beschluss und vielen anderen archivierten Dokumenten lernen ist, dass der „Wille zur Auslagerung“ von Geflüchteten – rassistische Kontinuitätslinien im Hinterkopf behaltend – bereits länger existiert hat und sich in eine asylrechtliche Eiszeit einfügte, die sich Anfang der 90er Jahre über das gesamte Bundesgebiet ausdehnte. Über die Einrichtung einer zentralen Aufnahmestelle für (Flucht-)Migrant:innen außerhalb urbaner Zentren zerbrach man sich im Schweriner Schloss bereits Ende 1991 und im Sommer 1992 die Köpfe. Daher noch einmal:
Was hat Rostock/Lichtenhagen nun mit Nostorf/Horst zu tun? Letztendlich wirkten die Ausschreitungen in Lichtenhagen wie eine Art Katalysator, der – insbesondere im Hinblick auf die Unterbringungsstrukturen – dazu genutzt wurde, das umzusetzen, was auf parteipolitischer und institutioneller Ebene bereits länger geplant war, jedoch bis dato nicht in die Tat umgesetzt wurde: Migrant:innen – deren Anliegen, Leid, Forderung und Stimmen – so weit aus dem öffentlichen Raum zu verbannen wie möglich.
Was wir an dieser Stelle festhalten können: Rostock/Lichtenhagen und Nostorf/Horst hängen unweigerlich zusammen. Und an Tagen wie diesen – aber eigentlich auch immer – reicht es nicht, wenn wir das Gedenken an den Pogrom und damit auch an den Rassismus der 90er Jahre auf Rostock beschränken. Wir müssen unsere kritischen Blicke auch 180 Kilometer entfernt von hier, auf das Lager in Nostorf/Horst richten.
Auf der Fahrt nach Horst berichtete ein Aktivist der No-Lager-Bewegung von Protesten vor Horst Anfang der 2000er Jahre, der ersten No lager Tour durch MV und Protesten für Bewegungsfreiheit vor und während des G8-Gipfels in Heiligendamm.
In Horst berichtete ein ehemaliger Bewohner über die schlechte Situation in der Einrichtung und Rassismus, den er dort erlebt hat.
Eine ehemalige Bewohnerin schilderte den Alltag in der EInrichtung: Schlechte Essensversorgung, die Verweigerung medizinischer Versorgung, unangekündigtes Betreten der privaten Wohnräume durch Personal der Betreiber u.a. Regelungen zeigen den diskriminierenden und psychisch zermürbenden Alltag der Bewohner:innen der Einrichtung.
Ein Bewohner von Horst sprach über die Perspektivlosigkeit und den Druck mehrere Monate unter den Umständen im Aufnahmelager leben zu müssen.
Women in Exile plädierte für eine starke und verbundene Bewegung der Betroffenen der rassistischen Lagerpolitik und appellierte an die Menschen in Horst für ihre Rechte einzutreten.
Berichterstattung
Beitrag im Nordmagazin
Korrektur zum Inhalt des Beitrags: Wir fordern nicht "eine bessere Integration von Geflüchteten in Mecklenburg-Vorpommern". Das Wort Integration fiel auf der Kundgebung kein einziges Mal. Der Begriff suggeriert die Betroffenen von Rassismus müssten ihr Verhalten anpassen, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Wir sagen: Rassist:innen müssen ihr Verhalten ändern - ob das nun Beleidigungen, Angriffe oder rassistische Gesetze sind. Wir fordern daher das Ende rassistischer Asylgesetze, das Ende der Isolation in Lagern, Sammelunterkünften und AnkER-Zentren, sowie die Betroffenen von Rassismus in ihren Forderungen zu hören und ernst zu nehmen.
Bildserie von Bildwerk Rostock
Danke für die Bilder, die wir hier in diesem Beitrag verwenden.