… und wie tief der Antiziganismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist
In Italien griffen vor zwei Tagen Faschist*innen der „Casa Pound“ Roma-Familien am Rande Roms an. Europaweit nehmen Gewalt und Diskriminierung gegen Sinti*ze und Rom*nja zu.
PRO BLEIBERECHT möchte mit vielen Anderen am 8. April an den Porajmos erinnern. „Porajmos“, diesen Begriff kennen viele Menschen nicht. Es ist das Romanes-Wort für „Verschlingen“ und bezeichnet die systematische Vernichtung der Sinti*ze und Rom*nja im Nationalsozialismus.
Vorne weg: Wörter und Bilder
Wörter, die wir benutzen, stehen nicht für sich. Jedes Wort ruft eine Reihe von Bildern und Verknüpfungen in unseren Köpfen hervor, die wiederum unsere Haltungen und Einstellungen beeinflussen. „Sinti und Roma“ ist eine Selbstbezeichnung. Sie sollte insbesondere nach dem Porajmos mit den Bildern in den Köpfen derer brechen, die die industrielle Vernichtung der „Zigeuner“ geplant, durchgeführt und schweigend mitgetragen haben. „Rom“ bedeutet Mensch auf Romanes. Sinti ist eine Minderheit der Roma, in Deutschland allerdings die Mehrheit der Roma. Sinti*ze und Rom*nja ist die gegenderte Variante von „Sinti und Roma“.
Im Kern geht es bei der Wahl der Wörter um die Haltung, die man damit ausdrückt, und die Perspektive des*der Sprechenden.
Antiziganismus nennt man die Diskriminierung von z.b. Sinti*ze und Rom*nja, in dem diese als "Zigeuner*innen" mit damit verbundenen rassistischen Zuschreibungen stigmatisiert werden (z.b. dass diese vermeintlich kriminell seien oder nicht arbeiten würden).
Historische Kontinuitäten: Ausgrenzung und Verfolgung seit dem Mittelalter
Mit dem Erscheinen von Rom*nja im 14. Jahrhundert begann auch ihre Ablehnung und Vertreibung innerhalb Europas. Rechtlos, zum Teil versklavt und vogelfrei waren sie stetiger Ablehnung und Willkür durch Herrschende wie auch dem Pöbel ausgesetzt. Die Praxis der Abschiebung über Herrschaftsgrenzen hinweg fand bereits zu dieser Zeit statt.
Zu Zeiten der Aufklärung wurden durch Zwangserziehung und Zerrüttung Romn*ja-Familien nachhaltig und gezielt zerstört, gleichsam wurden sie zum Untersuchungsobjekt für Aufklärer in diversen Wissenschaftsbereichen.
In den folgenden Jahrhunderten, im sich entwickelnden Nationalstaat und Kapitalismus fungierten antiziganistische Stereotype als stabilisierende Negativbilder, die u.a. dazu dienten Arbeiter*innen zu disziplinieren und ein homogenes "Wir" zu formen.
Das "fahrende Volk" wurde als Fremdkörper ausgegrenzt, Rom*nja wurde die Staatsbürger*schaft verweigert – ein Prozess, der sich in Deutschland über die Reichsgründung im 19. Jahrhundert bis hin zum Nationalsozialismus des 20. Jahrhundert entwickelte.
Die Verfolgung im Nationalsozialismus
In der Weimarer Republik wurde die „Zentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in der Form errichtet, in der die Behörde später im NS arbeitete. Der Vorgänger der Zentrale in Bayern hatte bereits einige Jahre vorher begonnen Sinti*ze und Rom*nja flächendeckend zu erfassen und zu registrieren. Das „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ wurde 1929 von der SPD eingebracht und von allen Parteien -außer der KPD- mitgetragen.
Im NS wurden im „Zigeunersippenarchiv“ zwischen 1936 und 1942 zentral alle Menschen erfasst, die von den Nazis als „Zigeuner“ betrachtet wurden. Die Datensammlung war nur möglich, weil auf kommunaler Ebene viele Stellen Informationen lieferten, z.B. Kirchen, Schulen, u.a.
Erste Verhaftungen und Verschleppungen in Konzentrationslager fanden ab 1938 unter dem Titel „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ statt. Mehrere Tausend Menschen landeten so in Zwangsarbeit oder wurden zwangssterilisiert. Im selben Jahr fasste der „Himmler-Erlass“ Rom*nja explizit unter die Nürnberger Rassengesetze, in denen sie nicht wörtlich genannt sind. 1943 begann die große Deportationswelle in Vernichtungslager, hauptsächlich in Osteuropa.
Da viele der deportierten Rom*nja Christ*innen waren, wandten sich Betroffene zu Beginn der Deportationen an kirchliche Autoritäten, wie Bischöfe. Reaktionen oder Unterstützung folgten nicht.
Die genaue Zahl der Rom*nja, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen, ist bis heute nicht geklärt. Man geht von 500.000 Todesopfern der Vernichtungsideologie aus.
Fehlende Aufarbeitung und die Forderung nach Erkennung des Porjamos
Viele der Täter, die Rom*nja verschleppten oder ermordeten, blieben nach 1945 ungestraft. Einzelne Verhandlungen fanden zwar statt, häufig war dabei aber nicht der Porajmos Hauptgegenstand des Verfahrens. Institutionen blieben teilweise einfach unter neuem Namen bestehen.
In den 50er Jahren wurden Entschädigungsleistungen für Rom*nja durch deutsche Gerichte weitgehend abgelehnt – sie seien bis 1943 nicht aus rassenideologischen Gründen verfolgt worden, sondern weil sie „asozial“ seien (sic!). Antiziganismus lässt sich eben, wie andere Ideologien, nicht durch einen Regierungswechsel überwinden.
In den 60ern gab es erste langsame Ansätze zur Entschädigung für Betroffene und Angehörige und zur Anerkennung des Porajmos. Bis zu einem national wie international anerkannten Gedenken sollten aber noch zwei Jahrzehnte vergehen. 1980 gab es einen weltweit viel beachteten Hungerstreik von Rom*nja-Aktivist*innen in dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau:
„Zu den Forderungen der Hungerstreikenden gehörten insbesondere die offizielle Anerkennung des Völkermordes an der Minderheit und die Einleitung von Verfahren, um die noch lebenden Täter für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Verlangt wurde auch die Überführung der früheren NS-Akten in das Bundesarchiv. Die Akten waren noch im Besitz der „Rasseforscher“, wie der Professoren Erhard und Arnold in Landau und Tübingen, die zu diesem Zeitpunkt noch in Amt und Würden waren. Die Teilnehmer der Protestaktion wollten, dass der Missbrauch dieser Dokumente des Völkermordes beendet wird, und eine Wiederaufnahme der Entschädigungsverfahren für die KZ-Überlebenden erfolgt.“
Unter den Hungerstreikenden war u.a. Romani Rose, der bis heute der Vorsizende des Zentralrats der Deuschen Sinti und Roma ist. 1981 besetzten Aktivist*innen ebenjenes Archiv in Tübingen.
1982 wurde der Porajmos als Völkermord durch die Bundesregierung anerkannt. Seit 2012 gibt es ein Denkmal für die Opfer des Porajmos in Berlin.
Das ständige Beharren und der Kampf für ihre Rechte durch Rom*nja-Organisationen waren ausschlaggebend für die Errichtung eines solchen Gedenkortes. Die Anerkennung des Leids der Hunderttausenden, die in Nazideutschland ermordet, gefoltert und verschleppt wurden und die Anerkennung des Leids der Angehörigen sind wichtige und hart erkämpfte Errungenschaften im Gedenken an den Porajmos.
Trotz der politischen Anerkennung des Porajmos spielen antiziganistische Vorurteile und Deutungen nach wie vor eine Rolle in der öffentlichen Debatte in Deutschland. So belegt eine Studie antiziganistische Sichtweisen und Erfassungsstrukturen bei der Polizei und auch in den Medien sind oft einseitige Bilder zu sehen.
Aktuelle Gesetzesverschärfungen
Diese antiziganistischen Stereotype fanden sich um 2012-2015 weitgehend in der Debatte um „Armutsmigration“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ wieder. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich (CDU/CSU) heizte diese Stimmung maßgeblich an und forderte, u.a. die Länder Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sog. "Sicheren Herkunftsstaaten" zu erklären.
Die rassistischen Zuschreibungen über Asylsuchende aus den Balkanstaaten führten dazu, dass innerhalb von zwei Jahren alle Balkan-Staaten zu sogenannten „Sicheren Herkunftsländern“ erklärt wurden. Entgegen der Annahme eines Großteils der Bevölkerung beurteilt die Bundesregierung das Label „sicher“ nicht anhand valider soziologischer Fakten. „Sicheres Herkunftsland“ ist vor allem ein politischer Kampfbegriff, der Asylanträge aus bestimmten Staaten reduzieren soll, wie z.B. aktuell in der Debatte um die Einstufung Georgiens als „sicher“. Rechtlich bedeutet es für die betroffenen Menschen, wenn sie einen Asylantrag stellen: Sie müssen beweisen, dass sie verfolgt sind. Doch Verfolgung beweisen, insbesondere wenn diese auf Rassismus, Antiziganismus und gesellschaftlicher Diskriminierung fußt, ist kaum möglich.
In anderen europäischen Ländern sind die Anerkennungsquoten für Menschen aus Albanien, Serbien und Kosovo unterdessen weit höher. Das Label „Sicheres Herkunftsland“ betrifft gerade in den Balkan-Staaten viele Rom*nja. Ihre Lebenssituationen kann man in den wenigsten Ländern als strukturell „sicher“ bezeichnen.
Die Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre treffen fast immer in noch höherem Maße Menschen aus sog. „Sicheren Herkunftsländern“. Sie bedeuten für die Betroffenen im Asylverfahren weitere restriktive Einschränkungen: Sie müssen bis zu ihrer Abschiebung in Sammellagern leben. In MV sind dies die „Erstaufnahmestellen", in anderen Bundesländern gibt es dafür sogenannte „Ausreiseeinrichtungen“. In MV dürfen ihre Kinder nicht in reguläre Schulen gehen (berifft alle Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen). Sie dürfen generell nicht arbeiten (außer 80-Cent Jobs innerhalb der Einrichtungen, die von den Sozialämtern zwangsverordnet werden). Grundsätzlich werden ihre Asylanträge in „beschleunigten Verfahren“ abgearbeitet. Das Ziel der Bundesregierung dafür sind 48 Stunden Bearbeitungszeit. Genug Zeit, um inhaltlich zu prüfen, ob jemand verfolgt ist?
Diese Gesetzesverschärfungen wurden nicht explizit für Sinti*ze und Rom*nja gemacht. Dass die rassistischen Stereotypen, die der Argumentation dafür zugrunde liegen, so breit mitgetragen werden, verweist allerdings darauf wie tief Rassismus und Antiziganismus in Deutschland noch heute sitzen.
Gedenken am 8. April
Das Gedenken am Roma Day ist eine europäische Bewegung für die Rechte der Rom*nja. Aktuell kann man den Aufruf "Roma für Europa" mitzeichnen, der sich für die Anerkennung und Bekämpfung der Diskrminierung der Romn*ja in Europa einsetzt.
Wenn wir des Porajmos gedenken, erinnern wir an hunderttausende Opfer der faschistischen Vernichtungsideologie. Gleichzeitig mahnen wir, dass eine solche sich nie wiederholen darf - erst Recht nicht in Deutschland. Wir sind in Gedanken auch bei denjenigen, die derzeit durch autoritäre Regime gefoltert und ermordet werden – während die internationale Gemeinschaft schweigt.
Das Erinnern an die Opfer des Porajmos muss getragen sein von einer kritischen Betrachtung antiziganistischer Strukturen und Handlungsweisen (vom Sprachgebrauch bis zur Polizeistatistik).