Kommentar zu Chemnitz

Von Problemen und Hetzjagden

Der folgende Kommentar war als Redebeitrag auch am Montag bei der Demonstration "Herz statt Hetze" in Schwerin zu hören. Dort demonstrierten zum wiederholten Male mehrere hundert Menschen gegen eine inszenierte Trauer-Feier der AfD.

#Wir sind mehr. Und vor allem: #Wir sind lauter.

Das bewiesen am 3. September 65.000 Menschen, die schwiegen, tanzten, pogten oder einfach zusahen, als die Toten Hosen mit Musiker-Kollegen (Ja, die Frauen fehlten auf der Bühne!) den Chemnitzer Johannisplatz in ein Statement gegen die Banalisierung rechter Hetze, Menschenfeindlichkeit und Populismus verwandelten. 20.000 wurden erwartet, über 60.000 kamen. Absperrungen wurden überwunden, Plätze wurden eingenommen, Menschenmengen fotografiert – die 85 Prozent, die bei der Bundestagswahl nicht die AfD gewählt hatten, waren endlich dort – sind endlich dort – wo sie hingehören: in der Öffentlichkeit.

Die Welt blickte mit funkelnden Augen auf das sonst so gesittete Chemnitz.

Mobilisiert wurde jedoch bereits vorab: Antirassistische Initiativen veranstalteten am 1. September eine Kundgebung, die sich dem Marsch der AfD, Pegida und den ‚Pro-Chemnitz‘-Anhänger*innen entgegenstellte. In gewohnter Manier zog man hier aus, um einen tragischen und sinnlosen Todesfall unter dem Deckmantel der ‚Trauer‘ für eine politische Agenda der Ressentiments und des Fremdenhasses zu instrumentalisieren. Erneut.

Das ‚Who-is-who‘ der Politprominenz war ebenfalls zu Gast – sagte jedoch nichts. Erneut. Man wolle den Chemnitzer*innen schließlich nicht die Bühne stehlen. Und außerdem: Neo-Nazis!? Mit denen habe man im Bundestag eh nichts am Hut.

Beweist eins: Zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Künstler*innen und Menschen, die einfach nicht mehr schweigen wollen zeigen immer wieder Gesicht, auch weil sich Politiker*innen auf Landes- und Bundesebene seit Jahren nicht entschieden genug gegen rechte, nationalistische und populistische Strömungen stellen (können oder wollen) und weil mehr als 2.200 Anschläge auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte (2017) immer noch nicht reichen, um Rassismus wiederholt, öffentlich und konsequent zu verurteilen.

‚Schönrednerei‘ als politische Disziplin. Zumindest bei der CDU in Sachsen, die eine Woche nach den Ausschreitungen postwendend zur Normalsatire zurückkehrt. Ministerpräsident Michael Kretschmer legt vor: „Klar ist: Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome.“

Sehr gern würden wir Herrn Kretschmer sehen, wie er das denjenigen erklärt, die von eben diesem MOB durch eben diese Straßen GEJAGT wurden. Die wir in Videos gesehen haben. Von denen wir Interviews gelesen haben. Mit denen wir gesprochen haben. Und bei denen es sich um Menschen ALLER Hautfarben handelt.

Seine Aussage könnte lächerlich sein, wenn sie nicht so fatal wäre. Kretschmers Angst: Chemnitz-Bashing, Sachsen-Bashing, Ost-Bashing. Ein Trauma, von dem wir Ostdeutschen uns scheinbar nicht lösen möchten. Dabei mal ehrlich: Wer heute noch denkt ‚der ganze Osten sei voller Rechter‘ ist genauso dämlich wie die Rechten selbst.

Der tatsächliche Effekt seiner Aussage ist die Vertiefung der Kerbe zwischen Citizen und Non-Citizen, zwischen Deutsch und Nicht-Deutsch zwischen uns und denen. Grundsätzlich nur eine Idee, die zur alltagsrassistischen Realität wird, wenn den Einen eine Meinung zuerkannt wird – Angst, Besorgnis, Kritik – und den Anderen nicht. Was sie erfahren wird nicht nur irrelevant, sondern damit non-existent.

Als wäre diese politische Debatte nicht schon beschämend genug, legt Bundesinnenminister Horst Seehofer auf dem Stammtisch der CSU-Klausurtagung mit Entschlossenheit und Starrsinn nach.

Horst – einer der letzten Bundespolitiker mit Arbeiterhintergrund (genaugenommen einer von Zweien: er und Peter Altmaier), potentieller Hoffnungsträger all derer, denen nicht die Vorstandsmitgliedschaft oder Juniorprofessur in die Wiege gelegt wurde, enttäuscht uns erneut mit einer verbalen Vollentgleisung: Migration sei die Mutter aller Probleme. Das sage er seit Jahren.

Oder anders formuliert: ‚An all die Menschen, die sich am 1. September in Chemnitz zusammengerottet, Leute gejagt und geschlagen, geschrien, geschimpft, gespuckt, Reporter angegriffen, Rechtsextremismus banalisiert, Hitlergrüße und nackte Ärsche gezeigt haben: Ihr habt Recht! Es tut uns leid.‘

Das letzte Mal, als die politische Elite rechter Hetze und Rassismus nachgab, wurden Dutzende Asylsuchende und Gasterarbeiter*innen in Nacht-und-Nebel-Aktionen mit Bussen in entlegene NVA-Kasernen gefahren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Im kollektiven Gedächtnis auch abzurufen unter: Rostock-Lichtenhagen. Was in der Erinnerung fehlt: die Erstaufnahmeeinrichtung in Nostorf/Horst.

Doch auch hier reicht die rund 2.200ste rhetorische Bruchlandung nicht, um wiederholt, öffentlich und konsequent den Rücktritt des Innenministers zu fordern. Kretschmer und Seehofer bestästigen die Beobachtung vieler Gegendemonstrant*Innen vom 1. September: Rassistische Allüren sind längst in der vermeintlich politischen und bürgerlichen ‚Mitte‘ angekommen; alltagstauglich geworden.

Diese Selbstverständlichkeit, mit der sich knallharte Rassismen auf Wahlplakaten, der Straßenbahn, im Bekanntenkreis, im Sportverein, an der Ladenkasse verbreiten, ist absolut erschreckend und nicht zu akzeptieren.

Wir können und werden diese unterdrückenden und populistischen Diskurse unter dem Deckmantel bürgerlicher Angst und Sorge nicht hinnehmen und wir können und werden nicht dabei zusehen, wie politische Stellvertreter*innen (!) Menschen mundtot machen. Weder in Sachsen, noch in Mecklenburg-Vorpommern oder sonst wo.