Den Krieg wieder erleben, Tag 280

Wie fühlt es sich an durch Krieg aus dem alten Leben in eine neue Welt gerissen zu werden? Eine Genossin berichtet,

Den Krieg wieder erleben, Tag 280

An jedem Tag unseres Alltags ohne Krieg treffen wir viele Entscheidungen, die uns ein Gefühl von Kontrolle über unser Leben geben. Dieses zerbrechliche Privileg hilft uns die Zukunft zu planen und erinnert uns immer wieder an die Bedeutung eigene Entscheidungen zu treffen. Der Krieg raubt uns diese Möglichkeit.

Viele Geflüchtete, nicht nur UkrainerInnen, finden sich in einer völlig neuen Umgebung wieder und verlieren ihren Sinn für Subjektivität. Apathie, Gefühllosigkeit, Wirklichkeitsverlust - du fühlst dich gefangen zwischen der Realität und einer imaginären Welt. Der bürokratische Kampf für das Recht, sich in einem Nicht-Kriegsland aufzuhalten, wird zu deiner neuen Aufgabe. Das Jobcenter wird zur Karikatur der deutschen Ordnung. Diese Ordnung existiert quasi von selbst, du hast keinen Einfluss auf irgendetwas. Deine Papiere können einfach verloren gehen, und dann beginnst du das ganze Verfahren von vorne. Warum hast du es denn so eilig?

Du hast Angst, in diesem Elfenbeinturm eine falsche Bewegung zu machen und so einen Teil deines Taschengeldes zu verlieren. Dieses reicht gerade mal aus, um zwischen Weiß- und Mehrkornbrot zu wählen. Beides zu kaufen ist bereits ein Luxus.

Du versuchst das Flüchtlingslager zu verlassen, denn das kollektive Trauma in den engen, schlecht belüfteten Gängen wird nur noch tiefer und dunkler. DeinE TherapeutIn, wenn du so glücklich bist eineN in Deutschland zu finden, fragt dich, was dir hilft, ein Gefühl der Sicherheit wiederzuerlangen. In diesem besonderen Moment der Geborgenheit sollte sich dein Bauch irgendwie mit Wärme füllen.

TE-TE-ROW. Eine kleine Stadt in Mecklenburg, in der sich eine Unterkunft für ukrainische Geflüchtete befindet. Ein Fluss mit einem ähnlichen Namen, Teteriv, liegt in der Ukraine, in der Region Zhytomyr. Er fließt durch enge Täler mit steilen Hängen und mündet im Kiewer Wasserreservoir. Allein die Kombination dieser Buchstaben beruhigt dich und macht dir weniger Angst.

Jedes Mal, wenn du dir sagst, dass du in Sicherheit bist, triffst du auf die armen Deutschen aus Teterow, die diesen Winter große Angst vorm Erfrieren haben. Jede Woche kommen sie und demonstrieren ihre Verzweiflung vor den Fenstern deiner Unterkunft. Sie skandieren, dass Teterow den Deutschen gehört und dass du an einen Ort zurückkehren sollst, wo es nur noch ums Überleben geht. Vielleicht wissen sie einfach nicht, was es heisst, Wasser aus Heizkörpern abzulassen und es unter den Kindern aufzuteilen, die im Keller eines Hauses sitzen, das schon sehr bald von der russischen Armee zerstört werden wird. Oder wie es ist, auf dich gerichtete Panzer zu sehen, die schon bald auf dein Haus schießen werden.

Dies sind nur einige der Kriegserlebnisse, die wir mit Menschen teilen, die sich auf der Flucht vor dem Krieg bei uns auf dem Hof [solidarische Anlaufstelle in MV] befinden. Wir helfen ihnen, wieder ein Gefühl von Zuhause und Sicherheit zu erlangen. Wir gehen mit ihnen diesen dornigen Weg durch Jobcenter, Ausländerbehörde und andere Kafka'sche Überbleibsel. Wir können ihre Traumata nicht heilen, aber wir können diese schwierige Erfahrung mit ihnen teilen. Und wir werden nicht zulassen, dass die Rechten den öffentlichen Raum der Kleinstädte übernehmen, indem sie giftiges Gedankengut in Mecklenburg-Vorpommern verbreiten.

Wenn ihr euch an einer konkreten Solidaritätsaktion mit Flüchtlingen in Mecklenburg beteiligen wollt, lasst uns gemeinsam in Teterow treffen.

Kino-Abend : « The Landscape of fear »

09. Dezember 2022, 19 Uhr
Raum der Begegnung, Teterow, Rostocker Str. 2

Wir werden einen Kinoabend veranstalten und gemeinsam über das Thema Migration in bewaffneten Konflikten nachdenken.

Mehr Informationen hier.

Dieses Land gehört der Empathie, der Menschlichkeit und der Solidarität!