Weltwechsel-Thema 2021: Gerechtigkeit

Pro Bleiberecht beteiligt sich seit letztem Jahr an den weltwechsel-Tagen des Eine-Welt-Landesnetzwerk. Wir freuen uns über die internationale Solidarität und die Vernetzung mit vielen tollen Initiativen aus MV, die sich dadurch ergeben.

In 2021 ist das weltwechsel-Thema „Gerechtigkeit“. Was verbinden wir mit dem Thema?

Gerechtigkeit ist ein uraltes Menschheitsthema und eine Utopie, der wir uns immer nur nähern können. Die Sehnsucht nach einem Leben in einer gerechteren Welt für alle Menschen ist untrennbar verbunden mit unseren Bestrebungen, Ungerechtigkeiten aufzudecken, öffentlich anzusprechen und schließlich zu verringern oder ganz zu beseitigen. Wenn wir Gerechtigkeit als Prinzip der Fairness anerkennen und auf die Grund- und individuellen Freiheitsrechte beziehen, die für alle Menschen – auch für Geflüchtete - gleichermaßen gelten sollen, müssen wir immer auch die Verstöße dagegen anprangern und auf Veränderung und Verbesserung drängen.

Der amerikanische Sozialphilosoph John Rawls schrieb vor 50 Jahren in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“: „Jeder Mensch soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verbunden ist.“

Die Initiative „Pro Bleiberecht MV“ setzt sich seit 2017 mit zivilgesellschaftlichen Aktionen für die Durchsetzung dieses Gerechtigkeitsprinzips für Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund mv-weit ein. Wir sind ein Netzwerk von ehrenamtlichen Akteur*innen, die geflüchtete Menschen in den verschiedensten Lebenskontexten darin unterstützen, ihre Chancen zu erkennen und ihre Rechte wahrzunehmen.

Die Hauptzielrichtung der politischen Proteste richtet sich gegen die viele Monate, nicht selten Jahre andauernde Unterbringung geflüchteter Menschen in der ehemaligen NVA-Kaserne am Waldrand von Nostorf-Horst bei Boizenburg, die seit 1992 als Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) für Geflüchtete in M-V dient. Die monatlichen Mahnwachen, die Pro Bleiberecht mit befreundeten Initiativen vor den Toren dieser abgeriegelten Einrichtung durchführt, werden rege besucht. Auf diesen Treffs berichten die Bewohner*innen der Einrichtung von ihren zahlreichen Problemen und Nöten in dieser Sammelunterbringung. Sie suchen unabhängige Informationen für ihre Asylverfahren, die ihnen ansonsten weitgehend verwehrt bleiben.

Pro Bleiberecht bildet die Perspektiven der Betroffenen ab und trägt die Probleme des Aufnahmelagers in die Öffentlichkeit.

Auch an anderen Orten in MV suchen wir den Kontakt zu Geflüchteten in MV, beispielsweise im Rahmen der No Lager!-Tour 2020 oder schlichtweg dort, wo wir wohnen. Im Einzelfall wird niederschwellige Unterstützung vor Ort oder im Umkreis organisiert, in der Fläche professionelle Hilfe außerhalb des geschlossenen Systems der Unterkünfte aufgesucht, wenn es um Verfahrensgerechtigkeit geht. Asylsuchende, die sich auf ihre Grundrechte berufen und bestehende Mängel oder Einschränkungen ansprechen, versuchen wir, wo immer wir können, zu unterstützen.

Ein jüngstes Beispiel finden wir auf der Insel Rügen. Ein junger Mann aus Afghanistan, der geduldet, aber in fester Arbeit ist, hatte nach über 5-jähriger Unterbringung in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften - gegen alle Widerstände und Drohungen der Betreiber und einer Mitarbeiterin des Fachdienstes Soziales der Ausländerbehörde - für sich selbst entschieden, in eine eigene kleine Wohnung zu ziehen. Jahrelang hatte er alle Verbote und Zimmerkontrollen ertragen, hatte für sein Bett bezahlt, alle Einschränkungen hingenommen, die das Zusammenleben mit einer weiteren Person mit sich bringt, die nicht zur Familie gehört.

Als er von dieser Ungerechtigkeit genug hatte, beschloss er mit Hilfe seiner Anwältin einen Antrag auf dezentrale Unterbringung bei der Ausländerbehörde zu stellen. Monatelang fragte er jeden Tag im Büro der Betreiber der Unterkunft nach, ob ein Schreiben für ihn abgegeben worden sei. Als nach einem halben Jahr immer noch keine Antwort der Behörde für ihn eingetroffen war und ihm gesagt wurde, dass er als Geduldeter ohnehin keinerlei Rechte mehr in Deutschland habe, da beschloss er auf eigene Faust, eine Wohnung für sich in der kleinen Inselhauptstadt zu beantragen.

Mit der Wohnungseigentümerbestätigung in der Tasche meldete er sich um und zog aus der GU aus. Als er seinen Zimmerschlüssel abgab, schauten ihm die Betreuer argwöhnisch hinterher, die Mitbewohner jedoch bewunderten ihn und halfen, seine wenigen Sachen in die selbst gemietete Wohnung zu tragen.

Und so lebt der junge Mann aus Afghanistan bereits 2 Monate dezentral, offiziell gemeldet und selbst finanziert in seiner hübschen kleinen Wohnung. Er hatte für sich die gleichen Rechte eingefordert, die seine deutschen Kolleg*innen und Freund*innen besitzen, mit denen er jeden Tag schwer arbeitet. Die Wohnungsfrage war für ihn zu einer Frage der Gerechtigkeit geworden, die sein Leben bestimmte.

Wenn ihr mehr über solidarische Aktionen für und mit geflüchteten Menschen erfahren wollt oder euch beteiligen möchtet, fühlt euch eingeladen und kontaktiert uns.