Quer durch die Sahara führt die einzige Eisenbahnlinie Mauretaniens. Auf ihr verkehrt der längste Zug der Welt. In 200 Waggons wird in der Wüste gewonnenes Eisenerz in die mauretanische Hafenstadt Nouadhibou transportiert. Vier Lokomotiven ziehen die Waggons des Zuges, der insgesamt zweieinhalb Kilometer lang ist. An der Strecke verteilt sind kleine Siedlungen, in denen Menschen einzig aus dem Grund wohnen, die Gleise regelmäßig vom Sand zu befreien.
Mauretanien besteht zum großen Teil aus Wüste, der Süden des Landes liegt in der Sahelzone, fruchtbares Land befindet sich an den Ufern des Flusses Senegal. Obwohl reich an Bodenschätzen, gehört es zu den ärmsten Ländern der Welt. Und noch einen Superlativ hat Mauretanien vorzuweisen: Als letztes Land der Welt hat es 1978 die Sklaverei verboten. Das bedeutet nicht, dass es keine Sklaverei mehr gibt.
Auch sonst ist die Menschenrechtslage in Mauretanien äußerst prekär. Die arabische Minderheit herrscht über die Schwarze Bevölkerung. Es gibt weder Gleichheit vor dem Gesetz noch die Freiheit, seine Meinung öffentlich zu sagen.
Asylsuchende gewinnt vor dem Verfassungsgericht
Die meisten Mauretanier*innen, die in Deutschland Asyl beantragt haben, leben in Mecklenburg-Vorpommern, eine Folge des Verteilungsschlüssels des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Ihre Asylanträge werden meistens abgelehnt, zum Teil aufgrund einer nur sehr oberflächlichen Prüfung ihrer Situation.
In Greifswald hat eine Mauretanierin gegen ihren nachlässig erstellten Asylbescheid geklagt: Sie machte vor Gericht geltend, dass die einzige Möglichkeit, nach der Rückkehr zu überleben, darin besteht, sich erneut in Sklaverei zu begeben. Weil sie eine Frau ist, keine Papiere, keinen Schulabschluss, keine Familie hat und zur unterdrückten Bevölkerungsmehrheit gehört, hat sie keinerlei Perspektive.
Das Bundesverfassungsgericht gab ihr in seinem Urteil Recht. In der Pressemitteilung heißt es wörtlich, dass „Mauretanien zu denjenigen Staaten gehört, in denen die Sklaverei auch in der Gegenwart noch ein wesentliches, das Leben größerer Bevölkerungsgruppen maßgeblich prägendes Problem darstellt". Das Verwaltungsgericht Greifswald hätte in der Prüfung des Ablehnungsbescheids darauf eingehen müssen. Ebenso hätte das Oberverwaltungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern die Berufung nicht ablehnen dürfen. Die Klage gegen den Bescheid vom BAMF der Frau aus Mauretanien muss nun erneut geprüft werden.
Es ist natürlich unmenschlich und völlig absurd, den Asylantrag einer Person abzulehnen, die von Sklaverei bedroht ist. Aber auch die Menschen, die aus Mauretanien fliehen, ohne direkt von Sklaverei bedroht zu sein, haben gute Gründe ihr Land zu verlassen.
Eine rassistische Gesellschaftsordnung
In Mauretanien existiert eine Art Kastensystem, in dem die Bevölkerungsgruppen streng hierarchisch gegliedert sind.
Die herrschende Schicht ist arabisch geprägt ("weiße Mauren")*. Sie besetzen die meisten wichtigen Positionen in Politik, Justiz, Wirtschaft, Militär, Verwaltung, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung äußert sich in alltäglichen Ungerechtigkeiten in Verwaltung und Justiz, in Polizeigewalt, in marginalisierten, menschenunwürdigen Lebensumständen. Viele leben in schlechten Verhältnissen in stetig wachsenden armen Vierteln, die von den Rändern der Städte bis in die Wüste reichen.
Während Kinder aus der regierenden Minderheit auf gut ausgestattete Privatschulen gehen können, besteht eine Schwarze Schulklasse aus 80-100 Kindern. Aber auch mit guter Schulbildung gibt es wenig Aufstiegsmöglichkeiten für sie.
Die Ereignisse von 1989
Seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1960 hat sich die arabisch geprägte Minderheitenregierung jahrzehntelang darum bemüht, zu behaupten, dass die Schwarzen "Volksgruppen"* gar nicht rechtmäßiger Teil der Bevölkerung Mauretaniens sind. In diesem Zusammenhang müssen auch die Massenvertreibungen und Enteignungen gesehen werden, die zwischen 1989 und 1991 stattfanden. 70.000 Menschen der Hal Pulaar, der Soninké und anderer Gruppen wurden in den Senegal und nach Mali vertrieben. Es kam zu willkürlichen Tötungen, Folterungen und 1990 zur öffentlichen Erhängung von 28 Schwarzen Soldaten, mit der zynischerweise der Tag der Unabhängikeit (28.November) begangen wurde.
Insgesamt 3000 Menschen wurden nach Schätzungen der Gesellschaft für Bedrohte Völker getötet. Bis heute gibt es keine Aufarbeitung des Geschehens, international findet es wenig Beachtung, in den Wikipediaeinträgen zur Geschichte Mauretaniens werden die Ereignisse sowohl im deutschsprachigen als auch im französischen Eintrag ignoriert.
Die Bevölkerungszahlen in Mauretanien sind bis heute ein Politikum. Weil die Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung noch deutlicher werden würde, wären reale Zahlen zur Bevölkerungsstruktur bekannt, werden diese Zahlen schon lange nicht mehr offiziell ermittelt bzw. systematisch verzerrt. Viele Mauretanier*innen der unterdrückten Gruppen haben keine Papiere, die Verwaltungen in den Regionen, in denen vorwiegend Schwarze leben, arbeiten gar nicht oder schlecht. Um Papiere zu bekommen, müssen unangemessen viele Beweise für die mauretanische Staatsangehörigkeit erbracht werden. Längst nicht jedes Neugeborene der unterdrückten Gruppen wird auch ins Geburtenregister aufgenommen. Der offizielle Anteil der Schwarzen an der Gesamtbevölkerung wird so künstlich klein gehalten - auch um sie von Wahlen auszuschließen. Beobachter_innen schätzen den Anteil üblicherweise auf zwei Drittel**.
Sklaverei
Die 1980 verbotene Sklaverei wurde 2008 durch ein weiteres Gesetz, von dem manche sagen, es sei nur ein Zugeständnis an die internationale Staatengemeinschaft, unter Strafe gestellt. Sehr wenige Gerichtsurteile sind seitdem gefällt worden, keines wurde vollstreckt. Wieviele Opfer von Sklaverei es noch gibt, weiß niemand. Aber dass es viele sind, ist unumstritten.
Während Amnesty International von ca 43.000 Menschen in Gefangenschaft ausgeht, sind es laut der Anti-Sklaverei-Organisation SOS Esclaves eher 600.000 Menschen (20% der Bevölkerung), die in Leibeigenschaft oder unter sklavenähnlichen Bedingungen leben. Sie bekommen keinen Lohn für ihre Arbeit, haben kein Möglichkeit, sich frei zu bewegen, keine Privatssphäre, keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Sklaverei bedeutet auch willkürliche Gewalt und dass Frauen täglich vergewaltigt werden. Kinder, die in Sklaverei geboren werden, sind so unfrei wie ihre Eltern.
Wenn ein Land die Sklaverei verbietet, folgt daraus nicht automatisch, dass die Betroffenen auch davon erfahren. Ihre "Besitzer*innen" werden kaum hingehen und sagen: „Übrigens, die Gesetze haben sich geändert, ab jetzt bekommst du einen fairen Lohn für deine Arbeit und einen geregelten Kündigungsschutz“. Dazu kommt, dass die meisten Menschen in Mauretanien tief religiös sind und es auch Versklavte gibt, die die Tatsache, dass sie als Besitz eines Menschen betrachtet werden, als göttliche Ordnung ansehen und ein Ausbruch aus dieser Ordnung für sie eine große Sünde bedeutet. So bleiben manche aus Mangel an Perspektive. Die, die gehen, gehen in bitterste Armut.
Kampf gegen die Sklaverei
Die IRA (l’Initiative pour la Résurgence du mouvement abolitionniste, Initiative zur Wiederbelebung der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) kämpft seit Jahren für das Ende dieser entsetzlichen Situation. Sie leistet Aufklärungsarbeit bei den Betroffenen, hilft bei einzelnen Befreiungen, setzt die Regierung unter Druck und versucht, die internationale Gemeinschaft zum Handeln zu bewegen.
Der Vorsitzende der Initiative, Biram Dah Abeid, saß mehrere Male im Gefängnis und wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2014 mit dem Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen.
Bis vor kurzem wurden Mitstreiter*innen der IRA von Polizei und Justiz verfolgt, Wortführer*innen wurden ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Nicht wenige flohen ins Ausland, einige unter ihnen leben heute in Mecklenburg-Vorpommern und kämpfen um Anerkennung ihres Asylantrags.
Seit der Präsidentschaftswahl von 2019 hat sich die Situation ein wenig verbessert. Ein ehemaliger Weggefährte des früheren Präsidenten ist nun Präsident, Mohamed Ould Ghazouani. Er gibt sich unerwartet liberal, lädt Oppositionelle zum Gespräch ein, begnadigt politische Gefangene und geht deutlich auf Distanz zur repressiven Politik seines Vorgängers.
Auch Biram Dah Abeid, der Vorsitzende der IRA, trat bei der Präsidentschaftswahl an und erhielt immerhin 18 Prozent der abgegebenen Stimmen. Seine Organisation aber, die IRA, bleibt nach wie vor verboten.
Desolate Zustände
Das politische Tauwetter, von dem niemand weiß, wie lange es anhält, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lebensumstände der Meisten eine Katastrophe sind. Das Elend der Armen und die Marginalisierung der Schwarzen in Mauretanien ändern sich nicht über Nacht.
Das Rechtssystem der islamischen Republik ist an die Scharia angelehnt. Auf Homosexualität steht immer noch die Todesstrafe, auch wenn sie zuletzt 1987 vollstreckt wurde. Ebenso sind die Folterungen in den Gefängnissen nicht vorbei. Menschenrechtsaktivist*innen und Oppositionelle werden häufig wegen des Vorwurfs der Blasphemie (also der "Gotteslästerung" oder "Aufruf zu einer säkularen Gesellschaft") inhaftiert. Ein Vorwurf, der schnell zur Hand ist - denn er fußt im Glauben, nicht in Tatsachen.
Zwangsverheiratungen sind üblich – 2017 wurden noch 35% der Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Wenn eine Frau ihren Vergewaltiger anzeigt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie vor Gericht stattdessen wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs verurteilt wird. Von Genitalverstümmelung betroffen sind immer noch über 50% der Mädchen unter 14, bei den Älteren sind es fast 70% der Frauen und Mädchen.
Die Kindersterblichkeit der unter 5-Jährigen liegt bei 65%, jedes sechste Kind geht arbeiten.
All diese Zahlen beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung in Mauretanien, unnötig zu erwähnen, dass sie unter den Armen und unter der Landbevölkerung ungleich höher sind.
Recht auf Asyl
Die Mauretanier*innen, die ihr Land verlassen, gehören vorrangig zum Schwarzen Teil der Bevölkerung. Sie sind häufig ehemalige Versklavte oder von Vertreibung betroffen. Sie fliehen vor einem Leben mit wenig Perspektiven, ohne Gesundheitsversorgung, ohne Bildungsmöglichkeiten. Sie fliehen als Mitglieder einer Bevölkerungsmehrheit, die dennoch unterdrückt wird. Ein gleichberechtigtes Leben in Mauretanien ist für sie nicht möglich. Sie fliehen als Oppositionelle vor der Verfolgung durch den Staat, vor Gefängnis, vor brutaler Polizeigewalt, vor Folter. Diejenigen, die als Opfer von Sklaverei fliehen, sind schwer traumatisiert. Diese Menschen haben ein Recht auf Asyl!
Inzwischen ist es auch dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gelungen, sich über die Sklaverei in Mauretanien zu informieren. In einem veröffentlichten Briefing vom Februar 2020 ist von 600.000 versklavten Menschen die Rede.
Dennoch können wir nicht davon ausgehen, dass die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts dafür sorgen wird, dass die Asylanträge von Mauretanier*innen in Zukunft positiv beschieden und bereits abgelehnte Anträge revidiert werden. Anerkennungen werden weiterhin schwierig sein - schließlich ist die Sklaverei offiziell abgeschafft. Das Bundesamt macht es sich leicht, indem es sagt, es gebe daher von Seiten der Regierung keine Verfolgung. Auch im Urteil des Verfassungsgerichts geht es nicht um Flüchtlingsanerkennung oder Asyl im eigentlichen Sinne. In Greifswald müssen lediglich die Gründe für ein Abschiebeverbot erneut geprüft werden.
Ehrenamtliche Hilfe für Asylsuchende ist elementar: Es bedarf der gezielten Unterstützung durch frühzeitige Vorbereitung im Asylverfahren, Zugang zu sozialen Kontakten und intensive Begleitung nach Ablehnung von Asylanträgen. Jede Abschiebung nach Mauretanien bedeutet Gewalt. Traumatisierte Personen müssen frühzeitig als solche identifiziert und ihren gesundheitlichen Bedürfnissen entsprechend fachlich behandelt werden.
Wichtiger allerdings ist, dass Asylsuchende selbst ihre Rechte wahrnehmen und sich gemeinsam organisieren können. Sorgen und kämpfen wir für humane gesellschaftliche Aufnahmebedingungen, die das möglich machen!
Fußnoten:
* Wir sind uns bewusst, dass wir rassistische Pseudo-Forschung reproduzieren, wenn wir die Einteilung der Bevölkerung in maurisch, Schwarz und Araber*innen verwenden. Die ethnologische Betrachtung der Gesellschaft ist unseres Wissens nach leider die einzige Analysekategorie, die zur Verfügung steht, um die ungleichen rassistischen Verhältnisse in Mauretanien zu benennen. Wir schreiben Schwarz und weiß, um zu markieren, dass es sich um soziale Kategorien handelt, die gesellschaftlich entstanden sind und nicht auf real existierenden Unterschieden beruhen.
** Um zu "beweisen", dass die unterdrückten Schwarzen in der Minderheit sind, werden manchmal Maur*innen und Schwarze gegenübergestellt. Der Schwarze Bevölkerungsanteil wird dann mit ein Drittel angegeben. Das verfälscht die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, weil die Harratin, die Nachkommen der Sklavereiopfer, obwohl am stärksten unterdrückt, hier als Maur*innen gelten.