Redebeitrag: Gedenken für die Überlebenden und Opfer des Attentats in Hanau

Wie beginnt man? 

Wie beginnt man einen Redebeitrag über ein Thema, über das man nicht sprechen sollen müsste? Über einen Anlass, den es nicht geben dürfte? Wie erinnern wir an Verluste und Erlebnisse, die so schmerzvoll sind? Wie werden wir all dem gerecht, was die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau bewegt?

Beginnt man so?

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
wir versammeln uns hier in Rostock zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Terroranschlags in Haunau. Wir stehen an der Gedenkstele, die an die Perspektive und Erfahrungen der Betroffenen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen erinnern soll. 

Wir wissen um die Kontinuitäten des Rassismus in Deutschland. Wir wissen, dass der organisierte Hass auf der Straße Rassismus in Gesetzen und Verwaltungsstrukturen hervorbringt. Wir wissen um die Ideologien, die gewalt- und verwaltungsbereite Rassist*innen in sich tragen und in bittere Realität für Millionen Menschen in Deutschland verwandeln, die nahezu täglich Rassismus erleben. 

Wir wissen um unsere Verantwortung, diesen Rassismus täglich zu bekämpfen. Diese Verantwortung beginnt hier an dieser Stele, während wir an rechtsterroristische Gewalt erinnern. Sie führt über die rassistischen Alltagserfahrungen unserer Freund*innen hin zu institutionalisiertem Rassismus. Zu rechter Gewalt. Zur täglichen und vor allem psychischen Gewalt der sogenannten Mitte der Gesellschaft, die wir jeden Tag an Orten wie Nostorf-Horst (einem Produkt des Pogroms in Lichtenagen) und an den europäischen Außengrenzen beobachten müssen. 

Oder beginnt man so? In die Ferne gerichtet:

Liebe Betroffene, liebe Überlebende, liebe Angehörige,

wir trauern mit euch am Jahrestag des Anschlags. Wir können euren Schmerz und Verlust nicht nachempfinden, doch wir sind bereit für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der es keinen Rassismus mehr gibt.

Doch... "Betroffenheit, Verlust" - sind das die Zuschreibungen, die wir heute für euch, Überlebende und Angehörige, wählen sollten? Eure Verbindung zum Täter, zum Anschlag? Eure Verbindung zum 19. Februar 2020? 

Ist es nicht auch und besonders das Leben, an das wir erinnern sollten? 

Die Leben, die nicht weitergelebt werden können, weil sie grausam genommen wurden.
Euer Tun, das die Erinnerung an sie wach hält und euer Tun, das für die anhaltende Forderung nach Gerechtigkeit und Aufklärung steht.

Wir wollen so beginnen:

Liebe Mitstreiter*innen, liebe Genoss*innen im Kampf gegen Rassismus,

wir bedanken uns bei euch, die ihr die Erinnerung an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov wachhaltet. Besonders sind wir in Gedanken bei den Angehörigen, die jemanden verloren haben, den Überlebenden und ihren direkten Unterstützer*innen. Ihr musstet etwas erleben, das niemand erleben sollte. 

Ihr zeigt seit einem Jahr die Kraft und den Willen aus dem Verlust eine Veränderung dieser Gesellschaft zu machen. Ihr recherchiert, dokumentiert, bringt die Realität der Ermittlungen an die Öffentlichkeit und klagt an. 

Wir sind tief bewegt von euren Berichten, die wir letztes Wochenende live in sozialen Medien verfolgen konnten. Wir sind dankbar, dass wir die Möglichkeit haben euch kennenzulernen - auch aus der Ferne. Wir sind auch dankbar, dass ihr uns die Gelegenheit gebt, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov nach ihrem Tod noch kennenzulernen, indem ihr Erinnerungen an sie öffentlich teilt. 

Wir wünschen euch und uns allen lückenlose Aufklärung und Gerechtigkeit. 

Wir beginnen mit dem Gedenken, mit dem Erinnern

Wir beginnen damit, den Überlebenden und Angehörigen zuzuhören und ihre Forderungen zu teilen. Wir beginnen damit, rassistische Ermittlungsbehörden nicht gewähren zu lassen. Wir beginnen damit, die Kontinuitäten im rassistischen Alltag dieses Landes und die Kontinuitäten der rassistischen Gewalt aufzudecken. Das Problem heißt Rassismus. 

Und: Wir beginnen jeden Tag aufs Neue. Wir werden nicht müde. 
Die Losung aus Hanau inspiriert uns und wird uns weiter antreiben:

Erinnern heißt verändern.