Wir haben heute gemeinsam mit dem Netzwerk für Flüchtlinge, Demokratie & Toleranz Parchim e.V., Rostock hilft e.V., der BUNDjugend Mecklenburg-Vorpommern und der No Border Academy Lüneburg einen Offenen Brief an den Landrat des Landkreis Ludwigslust-Parchim (LUP), sowie das Gesundheitsamt LUP geschickt. Ihr findet den Brief unten.
Macht mit!
Schickt den Brief auch per Post oder per Mail an:
Stefan Sternberg, den Landrat vonb LUP
Email: landrat@kreis-lup.de, weitere Kontaktmöglichkeiten hier.
Gesundheitsamt LUP, Fachdienst Gesundheit
Email: ute.siering@kreis-lup.de, weitere Kontaktmöglichkeiten hier.
Offener Brief zum kompletten Lockdown der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende Nostorf-Horst
Sehr geehrter Herr Sternberg,
sehr geehrte Frau Dr. Siering,
wir wenden uns an Sie mit der einfachen Frage: Sind Ihnen die Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Nostorf-Horst bekannt?
Mit Ihrer Allgemeinverfügung „Absonderung von Bewohnerinnen und Bewohnern der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern für Asylsuchende und sonstige Flüchtlinge in 19258 Nostorf/Horst, Nostorfer Str. 1“ vom 17. Dezember 2020 haben Sie sich entschlossen, die Einrichtung – zumindest dessen Bewohner*innen und Besucher*innen – unter eine pauschale Quarantäne zu stellen.
Auf öffentliche Kritik daran in den sozialen Medien haben Sie bisher nicht reagiert. Wir wenden uns deshalb in dieser Form an Sie.
Quarantäne für alle: In sich nicht schlüssig
Sie geben in der Allgemeinverfügung anhand von Quellen aus März 2020 an, dass keine fundierten Erkenntnisse darüber vorlägen, wie sich das Corona-Virus verbreitet und dass grundsätzlich eine mögliche Ansteckung aller Bewohner*innen und Besucher*innen, die die Einrichtung zwischen 15. und 17. Dezember 2020 betreten haben, nicht ausgeschlossen werden könne und daher für alle eine „häusliche Quarantäne“ angeordnet werden müsste.
Seitens des Robert-Koch-Instituts liegt mit Stand 1.12.2020 die klare Empfehlung vor, eben nicht komplette Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende unter Quarantäne zu stellen: „Das Übertragungsrisiko virusbedingter Erkrankungen der Atemwege ist in Aufnahmeeinrichtungen (AE) und Gemeinschaftsunterkünften (GU) besonders hoch, da hier viele Menschen auf engem Raum zusammen leben und Wohn-, Küchen-, Ess- und Sanitärräume gemeinsam nutzen. […] Es wird dringend empfohlen, eine Quarantäne der gesamten AE oder GU sowie das Errichten von (zusätzlichen) physischen Barrieren (Zäunen) zu vermeiden.“ (aus: Empfehlungen für Gesundheitsämter zu Prävention und Management von COVID-19-Erkrankungen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Schutzsuchende (im Sinne von §§ 44, 53 AsylG), www.rki.de).
Neben der Tatsache, dass Ihre Allgemeinverfügung dieses Empfehlung des RKI zuwider läuft, betrachten wir sie aus dreierlei Gründen für in sich unschlüssig:
a) Die Allgemeinverfügung erfasst nicht alle Menschen, die das Gelände in dem Zeitraum betreten haben, sondern lediglich einzelne Personengruppen (Bewohner*innen und Besucher*innen, nicht aber Mitarbeitende diverser auf dem Gelände ansässiger Organisationen wie Landesamt für innere Verwaltung, Malteser Werke gGmbH, Sicherheitsdienst oder Kantinenmitarbeitende). Sofern die Übertragungswege nicht letztendlich bekannt sind, wie können einzelne Personengruppen von einer möglichen Infektion ausgeschlossen werden? Würde das Ihrer Logik nach nicht eine Gefährdung der Öffentlichkeit darstellen, wenn nun Mitarbeitende der Einrichtung das Virus in ihrem privaten Umfeld verbreiten?
b) Nach wie vor werden Asylsuchende im Rahmen sogenannter „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ dafür eingesetzt die Sanitärräume zu reinigen, sowie in der Kantine bei der Vorbereitung des Essens zu helfen. Bestünde eine reale Gefahr, dass potentiell jede*r Bewohner*in infektiös ist, wäre der Einsatz an solchen zentralen Stellen, die für ein Hygienekonzept höchst bedeutungsvoll sind, mehr als fahrlässig. Vielmehr müssten beide Aufgaben von geschultem Personal durchgeführt werden, um eine weitere Verbreitung von Corona zu verhindern, das wie Sie selbst schreiben, vorrangig über Tröpfchen- und Schmierinfektionen zu Ansteckungen führt.
c) Ihnen sollte bekannt sein, dass innerhalb von Sammeleinrichtungen für Geflüchtete ein höheres Risiko besteht, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren (vgl. tagesschau.de vom 10.6.20: „Flüchtlingsunterkünfte. Gefährlich wie ein Kreuzfahrtschiff“). Sie scheinen dies auch tendenziell anzunehmen, da Sie alle Bewohner*innen und Besucher*innen - unabhängig davon ob sie Kontakt zu Infizierten hatten – pauschal unter Quarantäne stellen. Sie gehen also davon aus, dass jede*r Bewohner*in grundsätzlich einem Infektionsrisiko ausgesetzt ist, das nicht zur Genüge durch ein wahrscheinlich bestehendes Hygienekonzept in relevantem Maße reduziert werden kann.
Als verantwortliche Stelle müssten Sie und das Gesundheitsamt Ludwigslust-Parchim aus unserer Sicht aus dieser Annahme die einzig logische Konsequenz ziehen: Nämlich das Sammellager für die Dauer der Pandemie nicht zu betreiben. Sofern grundsätzlich bei jedem Bewohner bzw. Bewohnerin das Risiko einer Infektion durch potentiellen Kontakt mit Erkrankten anzunehmen ist, scheint kein krisentaugliches Hygienekonzept für die Einrichtung zu bestehen. Die Einrichtung weiter in Betrieb zu lassen, stellt also eine wissentliche Gefährdung der Bewohner*innen dar und verletzt deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das der deutsche Staat schützen muss.
Die Situation im Aufnahmelager: Keine „Häuslichkeit“, sondern eine Zwangslage
Der pauschale Charakter Ihrer Allgemeinverfügung erweckt den Eindruck als hätten Sie sich nicht im Detail mit der Situation im Aufnahmelager befasst. Wir vermuten, dass für die Einrichtung ein Hygienekonzept vorliegt. Dieses – so lässt Ihre Allgemeinverfügung wiederum vermuten – scheint nicht krisentauglich zu sein.
Darüber hinaus sollte ein Krisenmanagement in einer öffentlichen sozialstaatlichen Einrichtung, insbesondere wenn es durch ein Gesundheitsamt mit entwickelt wird, neben dem Infektionsschutz auch die psychische Gesundheit der Betroffenen in den Blick nehmen.
Sammelunterbringungen für Asylsuchende sind Zwangssituationen. In diesen konstruierten Sozialräumen leben mehrere hundert Menschen auf engem Raum. Sammellager für Asylsuchende sind Orte, an denen Menschen zusammenkommen, kurz nachdem sie aufreibende Fluchtwege hinter sich gebracht haben. Viele haben dort oder kurz vor ihrer Flucht psychische und/oder physische Gewalt erlebt. Manche kommen mit psychischen Erkrankungen hier an. In der Aufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst gibt es seit Jahren keine ausreichende Versorgung für diese Bedarfe und kein entsprechend geschultes Personal. Im Gegenteil: Die Sammelunterbringung und die Tristesse des Alltags dort verstärken diese Belastungen. Eine Quarantäne nimmt den Menschen nun die letzte Möglichkeit individuelle Strategien gegen Stress und zur Traumabewältigung umzusetzen, beispielsweise Spaziergänge, Sport rund um Horst oder Besuche bei Freund*innen und Familie.
Bewohner*innen der Einrichtung haben uns mitgeteilt, dass in den vergangenen Tagen der verordneten „Häuslichkeit“ vermehrt Konflikte zwischen Bewohner*innen aufgetreten sind. Diese sind sicherlich auf individuelles Verhalten zurückzuführen, sicherlich aber auch auf fehlende Stressventile in einer äußerst belastenden, strukturell geschaffenen Situation (wie beispielsweise fehlende Privatsphäre im Sammellager). Die Festschreibung auf die „Häuslichkeit“ konfrontiert Menschen in angespannten und psychisch stark belastenden Lebenssituationen miteinander. Der fehlende Raum sich auszuweichen oder sich körperlich zu betätigen verschärft Spannungen und Konflikte.
Immer wieder wurde politisch festgestellt, dass die „Häuslichkeit“ als sicherer Ort des Rückzugs ein Privileg ist, das nicht alle Menschen genießen. Bilden Sie dies auch in Ihrem Krisenmanagement ab!
Rassistische Praxis
Rassismus. Viele Deutsche haben Angst vor diesem Wort und allzu schnell den Reflex, dass Rassismus ein Phänomen ist, das ausschließlich bei Nazis, Rechtsextremen und der AfD auftaucht. Die Debatten des letzten Jahres rund um „Black lives matter“ haben einem Großteil der Bevölkerung, insbesondere jungen Generationen, ins Bewusstsein gerufen, was in der Rassismusforschung lange klar ist: Rassismus steckt tief in unserer Gesellschaft, von rechts bis links und eben auch in der Mitte. Er steckt in unseren Köpfen – in Form von Vorurteilen und zu schnellen pauschalen Urteilen. Und er steckt in unseren Institutionen – in Gesetzen und politischer Praxis, wie z.B. der Lagerpolitik der Bundes- und Landesregierung.
Diesem Rassismus müssen wir und müssen Sie sich stellen und ihn aktiv auflösen. Wir können dies nur auf persönlicher Ebene, indem wir unsere Solidarität mit den Betroffenen ausdrücken und die Stimmen der in Horst Abgeschotteten sichtbar und hörbar machen. Sie haben das Privileg auch etwas an rassistischer, institutionalisierter Praxis ändern zu können.
Die Allgemeinverfügung ist rassistisch, weil…
- sie andere Regeln für Bewohner*innen von Horst anlegt als für Menschen außerhalb der Einrichtung. Ganz simpel wird das deutlich, weil zwar Bewohner*innen, nicht aber Personal von der pauschalen Quarantäne betroffen sind.
- Außerhalb der Einrichtung wird zwischen Kontaktpersonen ersten und zweiten Grades unterschieden, wenn Quarantäne angeordnet wird. In Horst werden einfach alle als potentiell infektiös definiert. Den Bewohner*innen wird somit individuell umsichtiges und verantwortungsvolles Verhalten pauschal abgesprochen. Ent-Individualisierung ist ein zentrales Merkmal von Rassismus.
- Diese Pauschaldefinition ist gleichzeitig ein Eingeständnis, dass die Bewohner*innen der Einrichtung durch das vermutlich bestehende Hygienekonzept dort nicht ausreichend geschützt werden können. Indem sie durch die Allgemeinverfügung diesem Infektionsrisiko weiterhin ausgesetzt werden, wird ihr Recht auf Gesundheit geringer geschätzt als das anderer Menschen.
Nehmen Sie sich etwas Zeit diese Sätze zu durchdenken. Begreifen Sie sie als Chance etwas an rassistischen Verhältnissen ändern zu können.
Wir schreiben Ihnen diesen Brief, weil viele Bewohner*innen von Horst dies aufgrund der Sprachbarriere nicht können. Sie können es auch oft aus ganz praktischen Gründe nicht: So kann man gegen Ihre Allgemeinverfügung zwar Widerspruch einlegen, dafür geben Sie die Adresse des Landratsamts an. Doch steht den Bewohner*innen in Horst weder ein Drucker, noch Briefmarken, noch ein Faxgerät zur Verfügung.
Wir möchten Sie eindringlich auffordern: Befassen Sie sich mit der Situation vor Ort. Hören Sie dabei auch Stimmen, die kein Eigeninteresse daran haben, den Status Quo aufrecht zu erhalten.
Wir möchten Sie um eine zeitnahe Stellungnahme zur Situation in Horst bitten und darin auch aufzuzeigen, wie Sie zukünftig dort gegen das Risiko der Verbreitung von Corona vorgehen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Pro Bleiberecht in MV
Netzwerk für Flüchtlinge, Demokratie & Toleranz Parchim e.V.
Rostock hilft e.V.
BUNDjugend Mecklenburg-Vorpommern
No Border Academy Lüneburg