Gesundheitliche Auswirkungen von Abschiebungen

Am internationalen Tag der Menschenrechte kritiseren wir Abschiebungen als Verletzung der Menschenrechte und der EU-Grundrechtecharta. Wir möchten für das Thema sensibilisieren und Behörden wachrütteln. Denn...

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Artikel 3, Recht auf Freiheit und Leben
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. 

EU-Grundrechte-Charta: Artikel 35 Gesundheitsschutz
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.

Grundgesetz Deutschland: Artikel 1 Die Würde des Menschen
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Gesundheitliche Auswirkungen von Abschiebungen

Abschiebungen sind ein schwerer Eingriff in die gesundheitliche Verfassung der Betroffenen und meist auch ihres Umfeldes. Jede Abschiebung ist staatlich legitimierte Gewalt.

Den wenigsten ist diese Tatsache im Alltag bewusst. Wir haben uns nämlich an die meist klein gedruckten dürren Nachrichten in unseren Medien gewöhnt: „In der letzten Nacht wurde die Familie XY oder der abgelehnte Asylbewerber Z. von der Polizei abgeholt und mit dem Flugzeug in ihr Land rückgeführt.“ Aus dem Auge, aus dem Sinn. Welche individuellen Dramen, Verletzungen, welches Leid, welche tiefe Verzweifelung dieser staatliche Gewaltakt hinterlässt, wird nirgends notiert, aufgezeichnet oder darüber Studien angefertigt. Die Folgen müssen die Betroffenen selbst tragen.

Schmerzvolle Zahlen

2018 gab es ca. 24 000 Abschiebungen, ca. 40% im Dublin-Verfahren, z.B. nach Italien, wo die Abgeschobenen meist auf der Strasse von der „Hand in den Mund“ leben müssen, ungeschützter Gewalt ausgesetzt sind (insbesondere Frauen) und in der Regel keine gesundheitliche Behandlung bekommen; oder aber nach Albanien, dem Armenland Europas, wo sie meist Diskriminierung und einer Existenzkrise ausgesetzt sind; oder aber auch in das gefährlichse Kriegsland Afghanistan, wo sie in eine gar tödliche Falle geraten könnem (seit 2016 sind 756 Personen abgeschoben worden).

Die wenigen Statistiken und Zahlen beschreiben nur die Spitze des Eisberges. So ermittelte die Antirassistische Initiative Berlin an Hand von offiziellen Zeitungsmeldungen zwischen 1993 und 2018 folgendes. (aus der Presserklärung der Antirassistischen Initiative vom Juni 2019) Das sind „nur“ die bekannt gewordenen tödlichen Folgen einer behaupteten rechtsstaatlichen Maßnahme.

  • 288 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 83 Menschen in Abschiebehaft.
  • 3015 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hunger- und Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich 837 Menschen in Abschiebehaft.
  • 5 Flüchtlinge starben in diesem Zeitraum während der Abschiebung (an Erstickung wegen fixierter Fesselung).
  • 556 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt.
  • 38 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode.
  • 621 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt und gefoltert, kamen aufgrund ihrer bestehenden schweren Erkrankungen in Lebensgefahr oder erkrankten schwer.
  • 75 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos.

Rückkehr mit ungewissen Folgen

Noch viel weniger wissen wir vom Schicksal der Zurückgekehrten und welche gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen sie in der Langzeitfolge zu tragen haben. Eine kürzlich erschiene Studie von Frau Friederike Stahlmann an abgeschobenen Afghanen (Asylmagazin 8 -9/2019 S. 276 -286) kam zu erschreckenden Ergebnissen: 90% der untersuchten Schicksale, die sich mehr als 2 Monate in Afghanistan aufgehalten haben, haben schon wieder massive Gewalt (Folter, Misshandlung, Schläge, psychische Bedrohung, Anschläge) erlebt, die meisten davon als Bestrafung durch Islamisten für ihre Flucht zum „westlichen Feind“. Die Hälfte der untersuchten Personen hatten sich schon vorher wieder auf die Flucht außer Landes gemacht, was eine große Gefahr der Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Identitätsstörung birgt.

Einzelbeispiele aus eigener Untersuchung zeugen immer wieder von einer traumatischen Auswirkungen der Abschiebung, die häufig von der Öffentlichkeit unbemerkt nachts dramatisch verlaufen.

„Ich erinnere mich noch an eine Frau, die mit ihrer Familie überraschenderweise aus der Behandlung heraus in die Türkei abgeschoben wurde, wegen eines Erregungszustandes vor ihren Kindern während des Fluges gefesselt wurde und nach 4 Wochen in einer Nachuntersuchung in Istanbul noch die zahlreichen Hämatome am Körper zu sehen waren. Diese Frau war über ein Jahr nicht fähig, aus dem Haus zu gehen und ihre Rolle als Mutter von drei Kindern auch nur ansatzweise erfüllen zu können.“, berichtet ein Aktivist und Arzt.

Traumatisierte Geflüchtete geraten besonders häufig in Gefahr, bei solchen Abschiebemaßnahmen einer physischen Gewalt neu ausgesetzt zu sein. Vor einem Jahr wurde z.B. ein abgelehnter Asylbewerber, der in seinem Heimatland von kriminellen Erpressern misshandelt worden war und in seiner Angst drohte, gewalttätig zu werden, wenn ihn die Polizei holen würde, schon vorbeugend gefesselt und mit einer Augenklappe (um ihn vorübergehend blind zu machen) in Abschiebehaft über 100 km entfernt verbracht.

Eine Nachbefragung an abgeschobenen jungen Geflüchteten aus dem Kosovo durch den bayrischen Flüchtlingsrat ergab eine hohe Rate an gescheiterter Existenzsicherung, Schulversagen, Entwurzelung, Identitätsstörung, Resignation, Depressionen und Entwicklungsstörungen. Viele litten noch monatelang an den dramatischen Erinnerungsbildern über den Abschiebevorgang.

"Selbst bei erfolgreich abgebrochenen Abschiebeversuchen wurden von mir regelmäßig akute Belastungsreaktionen (F 43.0 nach ICD 10) festgestellt. Schwere dissoziative Zustände, Albträume, massive Angstreaktionen mussten häufig über Monate behandelt werden.

Zur Zeit begleite ich noch einen 50 –jährigen Mann aus Togo, der nach vielen Jahren und guter Integration und psychisch und physisch völlig gesund eines Tages für ihn überraschend von der Polizei aus seiner Wohnung zur Abschiebung nach Togo abgeholt werden sollte In einem dissoziativen Zustand (nicht in suizidaler Absicht) sprang er über die Balkonbrüstung und zog sich einen schweren Beckenringbruch zu. Heute, nach 2 Jahren, ist er immer noch nicht schmerzfrei und muss an Krücken gehen. Die monatliche Verlängerung seiner Duldung führte regelmäßig zu Schlaflosigkeit und Angstzuständen, auch die Verlängerung auf drei Monate führte bisher nicht zur Entlastung, sondern seine Gedanken kreisen dauernd nur um die Möglichkeit der erzwungenen Rückkehr und des Hierbleibens. Sein psychischer Zustand hat sich nur unwesentlich trotz Psychotherapie stabilisiert. Nach wie vor ist er arbeitsunfähig.“

Retraumatisierung durch Abschiebung

Besonders dramatisch werden Abschiebungen von traumatisierten, psychisch kranken und behinderten Personen erlebt. Nach einem häufig mühsam erworbenen Sicherheitsgefühl wird ihnen erneut „der Boden unter den Füßen weggezogen“ und sie erleben plötzlich erneut Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ausweglosigkeit, die wiederum die alten traumatischen Narben aufbrechen lassen und die Reaktionen auf die traumatisch erlebte Situation verstärkt wieder auftreten lassen. Solche Retraumatisierungen führen häufig zu einem jahrelang bestehenden Vertrauensverlust und Unsicherheitsgefühl, selbst dann, wenn sie endlich einen sicheren Aufenthalt bekommen haben.

Gemeint sind alle

Verheerend wirken sich auch Abschiebungen auf Menschen aus, die „nur“ Zeuge dieser Zwangsmassnahmen sind, selbst dann, wenn sie persönlich überhaupt nicht betroffen sind. Besonders verletzlich sind vor allem Geflüchtete, die nach Verfolgung, anstrengender Flucht und häufiger Existenzbedrohung in ihren Gemeinschaftsunterkünften und Flüchtlingslagern Zeuge dieser meist nächtlichen überfallsmäßigen Abschiebemaßnahmen werden, Kinder oder auch Menschen, die selbst noch keinen sicheren Status haben (z.B Duldung, Ausreisepflichtige) solche Abschiebungen von Nachbarn oder Bekannte mitbekommen.

„Wenn ich morgens z.B. ins psychosoziale Behandlungszentrum kam und dort unangemeldet schon einige meiner Klient*innen auf mich warteten, wusste ich genau, dass in der Nacht wieder eine Abschiebung in ihrer Einrichtung stattgefunden hatte.“

Wer Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus (z.B. Duldung) über längere Zeit begleitet, erlebt immer wieder, wie dramatisch die Nächte bei ihnen verlaufen. Bei jedem Geräusch eines Autos schrecken sie hoch, stürzen zum Fenster und starren lange hinaus, ob sie nicht ein Polizeiauto entdecken. Sie können stundenlang nicht wieder einschlafen und sind tagsüber völlig übermüdet. Nach Monaten sind solche Menschen - selbst wenn sie nicht abgeschoben werden - zermürbt, handlungsunfähig und werden arbeitsunfähig. Sie geraten dadurch in eine noch größere Unsicherheit und Aussichtslosigkeit mit der Gefahr, in ihrer Panik das letzte Stück Hoffnung auf einen sicheren Aufenthalt zu verwirken. Manche lassen sich dann zu paradoxen Handlungen, wie z.B. die Flucht in ein anderes europäisches Land, hinreißen, auch wenn sie dass noch weiter schädigt.

Auf jeden Fall bedeuten Abschiebungen immer Stress, manchmal mit einer extremen vegetativen Reaktion. Ist über längere Zeit immer wieder der Aufenthalt gefährdet oder zumindest unsicher, kommt es in der Regel zu überschießender Blutdruckerhöhung, Herz-Kreislauferkrankungen und/oder einem metabolischen Syndrom. Nach einer dramatischen Abschiebung aus Rheinland Pfalz in den Kosovo erlitt kurze Zeit nach der Abschiebung die 40-jährige Mutter einer größeren Romafamilie aus dem Kosovo eine solche massive Hirnblutung nach einer hypertensiven Krise, so dass sie daran verstorben ist. https://www.swr.de/report/nachgefragt-am-07-rueckkehr-nach-deutschland/-/id=233454/did=7879330/nid=233454/19300w1/index.html

Der Zusammenhang mit der Abschiebung war zwar nahe liegend, aber kaum beweisbar. Trotzdem hatten die Behörden nach einer Kampagne das Einsehen und ließ die Restfamilie mit mehreren Schulkindern wieder einreisen.

Suizid

In der Verzweifelung, die letzte Hoffnung auf eine gesicherte Existenz in Deutschland oder einem anderen europäischen Aufnahmeland zu verlieren, werden nicht wenige Menschen suizidal. Trotzdem sind es erfreulichere Weise bisher noch relativ wenige, die ihre Verzweifelung und Depression in eine solche Selbsttötungshandlung umsetzen. Darüber darf man aber nicht, wie viele Behörden oder Politiker darüber hinwegsehen, dass viele dieser Menschen unter der ständigen Unsicherheit leiden und später auch zur Persönlichkeitsveränderung neigen. Nicht wenige sind durch die Abschiebung ihr Leben lang gezeichnet.

Kinder und Jugendliche

Das Leiden der Kinder und Jugendliche nach einer Abschiebung wird besonders häufig verkannt. Sie leiden meist still vor sich hin, nach außen geben sie sich häufig stark und unbeeindruckt, zumal wenn ihre Eltern besonders hilflos auf die prekäre Situation reagieren. Deren Parentifizierung schlägt sich dann allerdings in späteren Jahren nieder, z.B. in der Pubertät oder als junge Erwachsene, sie werden entweder stark hyperaktiv, geben jedwede Verantwortung ab, reagieren mit Resignation, destruktiven, selbst schädigenden Verhalten, werden drogenkrank oder werden deutlich depressiv. Manche reagieren auch mit einer verzögerten Traumareaktion oder entwickeln gar eine posttraumatische Belastungsstörung. Kinder können sich selten selbst frühzeitig Hilfe und Unterstützung holen, man muss aktiv auf sie zugehen, bevor sie sich einem Erwachsenen öffnen können.

Die Würde des Menschen...

In vielen Fällen einer Abschiebung wird der Artikel 1 unseres Grundgesetzes zugunsten einer abstrakten Regelkonformität verletzt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“

Als Menschen in einer offenen demokratischen Zivilgesellschaft müssen wir diese Verpflichtung immer wieder verteidigen. Es gilt, möglichst präventiv solche Gewalthandlungen staatlicher Organe zu verhindern, wenn es sein muss auch mit einem Regelverstoß.

Beschäftigte im Gesundheitswesen haben eine wachsende Verantwortung angesichts der letzten Gesetzesverschärfungen. Die Behörden schließen immer mehr Möglichkeiten aus, den Gesundheitszustand der Betroffenen als Abschiebungshindernis zur Geltung zu bringen.

Auf keinen Fall sollten wir die gegenwärtige verschärfte Abschiebepraxis schweigend hinnehmen, sondern sie lautstark bekämBild: Bildwerk Rostock. Umstehende Geflüchtete dokumentierten, wie ein Mann während einer Abschiebung ohnmächtig wurde. Sommer 2018.pfen - selbst auf die Gefahr hin, als Mitglied einer „Abschiebeverhinderungsindustrie“ verunglimpft zu werden.

Bild: Bildwerk Rostock. Umstehende Geflüchtete dokumentierten, wie ein Mann während einer Abschiebung ohnmächtig wurde. Sommer 2018.