Zum Gedenktag für die Toten in Abschiebungshaft

Anlässlich des Gedenktags wollen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Und angesichts des anstehenden Abschiebeknasts in Glückstadt einen Blick in Gegenwart und Zukunft.

Kemal Altun, gestorben 1983

Am 30. April 1983 starb Kemal Altun durch einen Sprung aus dem Fenster eines Berliner Verwaltungsgerichts. Ihm drohte die Auslieferung in die Türkei, der er unter jeden Umständen entkommen wollte - Freitod statt Unfreiheit und Folter. 
Auf Kemal Altun geht der Gedenktag am 30. August zurück. Ein Gedenktag, der vielen Menschen, die heute Asylsuchende unterstützen, und insbesondere jenen, die es erst seit 2015 tun, nicht groß bekannt ist. Gedenktage, die die strukturelle und systematische Gewalt verdeutlichen, die dem deutschen (und anderen) Asylsystemen innewohnt, sind selten geworden. Sie sind nach wie vor wichtig, um den Finger in die Wunde eines entmenschlichenden Systems zu legen. 

Strukturell und systematisch – Kemal Altun ist nicht der einzige Tote

Menschen verletzen sich angesichts drohender Abschiebungen und sie ziehen Suizid in Betracht.* Dies ist eine bittere und schmerzhafte Tatsache, die es selten zur BILD-Schlagzeile oder in die Tagesthemen schafft. In der Vergangenheit bekannt gewordene Todesfälle sind die von Kola Bankole, Rachis Sbaai und Altankou Dagwasoundel
2012 war der Selbstmord von Mohammad Rahsepar in Würzburg der zündende Funke für die RefugeeTent Action und den Refugee Protest March, der zur Besetzung des Oranienplatzes und des Pariser Platzes am Brandenburger Tor in Berlin und einer bundesweiten Bewegung von Geflüchtetenaktivst*innen für ihre Rechte führen sollte.

Mecklenburg-Vorpommern -  Auswege im letzten Moment

Auch in Mecklenburg-Vorpommern gibt es immer wieder Fälle, in denen Menschen ihren eigenen Tod der Abschiebung - und dem was sie danach erwartet – vorziehen.
So drohte 2016 ein Familienvater in Stralsund aus dem Fenster zu springen.
Ein 57-jähriger sah vor einem Jahr keine andere Möglichkeit für sich als tatsächlich zu springen. 
Im Mai sprang in Greifswald ein 26-jähriger angesichts der drohenden Abschiebung aus dem Fenster der Gemeinschaftsunterkunft und zog sich dabei mehrere Wirbelsäulenbrüche zu
.
Vor zwei Monaten nahm sich ein junger Mann in der Abschiebehaftanstalt in Büren das Leben. Der Suizid sollte augenscheinlich von der Einrichtngsleitung unter den Teppich gekehrt werden. Der junge Mann suizidgefährdet und stand unter besonderer Beobachtung. Er sollte trotzdem abgeschoben werden.
Bei der viel besprochenen Abschiebung der „69“ nach Afghanistan versuchte ein junger Mann sich die Pulsadern aufzuschneiden - und wurde abgeschoben. 
Einer nahm sich nach der Ankunft in Kabul das Leben.

Diese Dinge geschehen und wir wissen es

All diese Todesfälle sind den politisch Verantwortlichen bewusst. Sie sind ein Teil der Abschiebeindustrie, den sie wissentlich und willentlich in Kauf nehmen. Sie sind ein Teil des deutschen Asylsystems, das Menschen zum Warten zwingt und ihnen darin Vieles aufbürdet: Zermürbung, Unsicherheit, Depression, Ängste.
Seit vielen Jahrzehnten wiederholen Aktivist*innen öffentlich diese Tatsachen. Sie suchen den Kontakt zu Betroffenen, sie machen die Schicksale ihrer Freund*innen öffentlich und halten die Erinnerung lebendig. 
Wir alle - Unterstützende, Antirassist*innen, Aktivist*innen, politisch Verantwortliche, Abschiebebhörden, ausführende Polizeibeamt*innen, Anwält*innen, Journalist*innen, usw. - wissen, was passiert. Auch wenn wir es nicht jeden Tag in unser Leben lassen wollen. 

Abschiebehaft in Glückstadt – Warum dieser Gedenktag für uns wichtig wird

In den vergangenen Jahren wurden vergleichsweise wenige Asylsuchende aus MV aus Abschiebehaft heraus abgeschoben, da MV keine eigene Abschiebehafteinrichtung betrieb. So hätten es Tote in Abschiebehaft wohl auch kaum in die regionale Berichterstattung in MV geschafft, da die Todesfälle in den Hafteinrichtungen in anderen Bundesländern stattgefunden hätten. Doch 2020 wird eine Abschiebehaftanstalt für MV in Glückstadt eröffnet, paritätisch geteilt mit Schleswig-Holstein und Hamburg. Die Auseinandersetzung wird in naher Zukunft immer öfter Teil unseres Alltags sein.
Pro Asyl forderte früher unter anderem Mindeststandards für Abschiebehaftanstalten festzulegen, beispielsweise Bewegungsfreiheit innerhalb der Einrichtung, angemessene medizinische Versorgung und Zugang von Beratungsorganisationen. Schleswig-Holstein verspricht all dies für den Abschiebeknast in Glückstadt. „Wohnen minus Freiheit“ ist das bitterböse zynische Motto für Glückstadt. Die institutionelle Gewalt an den Insass*innen mindert dieser Euphemismus im Dienste des politischen Framings nicht.
Er mindert auch nicht die Tatsache, dass wir buchstäblich auf den ersten Toten in Glückstadt warten können.
Denn was neben der Tatsache des Eingeschlossen-Seins belastet, ist die drohende Rückkehr; die rechtliche und politische Ausweglosigkeit. Drohende Verfolgung, weil das BAMF die Fluchtgründe nicht für schützenswert oder dringend genug hielt (wie im aktuell viel besprochenen Fall von Nasibullah S.). Drohende Perspektivlosigkeit in bitterer Armut oder hohe Verschuldung durch die Flucht. Das Eingeständnis des Scheiterns in einem sozialen Umfeld, das Unterstützung und Existenzsicherung erwartet hatte. Der psychische Druck, der zu bestehenden psychischen Erkrankungen kommt, die nach aktueller Gesetzeslage oft nicht asylverfahrensrelevant sind. Eine "etwas nettere Unterbringung" kurz vor der Abschiebung löst eben nicht die real existierenden, mitunter existentiellen Probleme der Menschen, denen das Recht auf ein gutes Leben nicht zugestanden wird. Und wir können keineswegs davon ausgehen, dass jede*r zu Recht abgeschoben wird.

Es kann nur eine Antwort geben

Den Abschiebeknast in Glückstadt verhindern! Denn jedes Leben zählt. Wir können und werden nicht auf den ersten Todesfall warten, bis wir uns empören und protestieren.
*Anmerkung für  Betroffene: Wer selbst Suizidgedanken hat und Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie etwa bei der Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder auf der Telefonrechnung noch dem Einzelverbindungsnachweis erfasst.