In diesem Jahr jährt sich der sog. "Asylkompromiss" zum 30. Mal. Diese Gesetzesverschärfungen wurden u.a. mit der rassistischen Gewalt der frühen 1990er Jahre legitimiert. Wir haben mit einiegen anderen Organisationen einen Offenen Brief an die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern geschickt. Lest ihn hier.
Der Brief ging an die Landesregierung und das Innenministerium MV, da dieses für asyl- und aufenthaltsrechtliche Regelungen zuständig ist.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir schreiben Ihnen diesen Brief anlässlich des 31. Gedenkens an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, weil dieses Pogrom eine der Voraussetzungen für die Gesetzesverschärfungen des sog. "Asylkompromisses" war, der kurz nach dem Pogrom gefasst wurde und vor 30 Jahren in Kraft trat. Mit diesem politischen „Kompromiss“ entschied sich die bürgerliche Mitte der Gesellschaft für ein Paket von Maßnahmen, das die rassistischen Diskurse der 1980er und frühen 1990er Jahre, die sich zuvor in Pogromen und täglicher Gewalt entladen hatten, in Gesetzesform goss.
Die Politik vertrat damals wie heute die falsche Auffassung, dass sich geflüchtetenfeindlicher Rassismus bekämpfen lässt, indem man die Betroffenen dieses Rassismus aus dem Blickfeld der Rassist:innen schafft, indem man die Grenzen abschottet und den Abschiebedruck intensiviert. Diese Annahme ist falsch: Menschen lassen vor allem dort von rassistischen Haltungen ab, wo sie selbst merken, dass diese falsch sind.
Die rassistischen Gesetze aus dem Asylkompromiss gelten größtenteils bis heute: Das Asylbewerberleistungsgesetz, gadje-rassistische Festlegungen auf pseudo-„Sichere Herkunftsländer“, die sichere Drittstaatenregelung und Weitere.
Rassistische Kontinuitäten brechen!
In Mecklenburg-Vorpommern sehen wir durch die Notwendigkeit der Aufarbeitung und Erinnerung an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen eine besondere Verantwortung, uns die Kontinuitäten des institutionellen Rassismus bewusst zu machen, der auf die Gewalt der 1990er Jahre folgte. Die Gesetzesverschärfungen, die rechtliche Zugeständnisse an den Hass der Gewalttäter:innen waren und sind, verliehen diesen Auftrieb. TerroristInnen wie das NSU-Kerntrio wurden durch solcherlei politischen Zuspruch in ihrer Ideologie gestärkt. Ihre Spuren in MV reichen bis in die frühen 1990er Jahre zurück, in die Stimmung also, die die rechte Szene kurz nach den Pogromen prägte.
Die Landesregierung MV geht in der aktuellen Legislaturperiode mit dem zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschuss "NSU II/ Rechtsextremismus" einen wichtigen Schritt, um die Kontinuitäten rassistischer Gewalt in MV aufzuarbeiten. Sie erkennt dabei bereits an, dass rechte Netzwerke miteinander verflochten sind. Als nächsten notwendigen Schritt gilt es zu verstehen, dass rassistische Gewalt und institutioneller Rassismus Hand in Hand gehen.
Anlässlich des 30-jährigen Bestehens des sog. "Asylkompromisses" und 31 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen fordern wir die Landesregierung daher auf, Regelungen auf Landesebene zu erlassen, die den bis heute wirkmächtigen Effekten des "Asylkompromisses" entgegentreten. Ansatzpunkte sind:
Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!
Seit dem "Asylkompromiss" gilt die diskriminierende Schlechterstellung von Asylsuchenden und Geduldeten hinsichtlich Sozialleistungen (Höhe der Leistungen, medizinische Versorgung, Pflicht zur Unterbringung in Sammellagern). Diese wurde angesichts einer Debatte um "Armutsflüchtlinge" und "Asyltourismus" entwickelt, die sich bis heute als Hetze in rechten Debatten wiederfindet. Rassistische Ideologien lassen sich aber nicht mit rassistischen Gesetzen bekämpfen.
Wir fordern daher eine Bundesratsinitiative der Landesregierung MV, die die Abschaffung des rassistischen Asylbewerberleistungsgesetzes anstößt. Dieses Gesetz diskriminiert Asylsuchende und Geduldete ganz offen und ist damit völlig inakzeptabel.
Zwischenzeitlich fordern wir die Landesregierung auf, die Benachteiligung ausgleichende Maßnahmen auf Landesebene zu treffen:
- Krankenkassenkarte für alle! - Um den Zugang zu medizinischen Leistungen zumindest rudimentär zu verbessern.
- Urteil des BVerfG zu Leistungen in Sammelunterkünften vom Oktober 2022 umsetzen! - Weil rot-rot keine Seehofer-Politik umsetzen sollte.
- Ein Ende der restriktiven Regelungen zur Anwendung des §2 AsylbLG in MV! - Damit Angleichung an reguläre Sozialleistungen nach 18 Monaten für ALLE.
Gadje-rassistische Regelungen abschaffen!
Der Diskurs der 80er und frühen 90er Jahre war geprägt von antiziganistischen Vorurteilen gegenüber den ankommenden Asylsuchenden. Diese spiegeln sich auch in den Gesetzesverschärfungen wider.
Wir fordern eine Bundesratsinitiative der Landesregierung MV, die die Einstufung von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien als "sichere Herkunftsländer" zurücknimmt und generell diese Rechtskategorie abschafft. Der Diskurs zur Einstufung der genannten Länder in den Jahren 2014 und 2015 fußte wie in den 1990er Jahren auf antiziganistischer Hetze. In keiner Weise sind die genannten Länder für Rom:nja sicher. Dies gilt auch für die aktuelle Debatte zur Einstufung der Republik Moldau als "sicher".
Zwischenzeitlich fordern wir die Landesregierung auf, die Benachteiligung ausgleichende Maßnahmen auf Landesebene zu treffen:
- Abschiebestopp für Rom:nja aus MV!
- Arbeitserlaubnisse und ein Ende der Leistungskürzungen für Menschen aus "sicheren Herkunftsländern"!
Dublin-Abschiebungen aussetzen!
Im "Asylkompromiss" war die strukturelle Abschottung Mitteleuropas von Asylgesuchen mit der Einführung der sicheren Drittländer bereits angelegt und mündete Jahre später in der Dublin-Verordnung. Dass diese schlichtweg nicht funktioniert, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen missachtet, zeigt sich in der andauernden Debatte um das nicht funktionsfähige Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Menschen fliehen und migrieren nicht ohne Ziel.
Wir fordern die Landesregierung auf, sich in allen Gremien des Bundestags für eine vollständige Abschaffung der Dublin-Verordnung einzusetzen; auf Bundesebene darauf hinzuwirken, dass das BAMF einen Selbsteintritt für die Asylverfahren in allen Dublin-Fällen macht; und auf EU-Ebene keiner weiteren Zusammenarbeit mit rechtsextremen und faschistoiden Regierungen wie derzeit in Italien, Ungarn und Polen zustimmt.
Zwischenzeitlich fordern wir die Landesregierung auf, ausgleichende Maßnahmen auf Landesebene zu treffen:
- Aussetzung sämtlicher Dublin-Abschiebungen!
- Damit verbunden die zwischenzeitliche Erteilung von Abschiebeverboten und damit Schaffen eines Zugangs zu Bildung und Arbeit für die Betroffenen!
Erinnern heißt verändern
Unter dieser Losung stand im vergangenen Jahr das zivilgesellschaftliche Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Auch namhafte Landes- und Bundespolitiker:innen gedachten des Pogromes, schwiegen aber zum bis heute bestehenden institutionellen Rassismus, der auf das Pogrom folgte. Die Verschränkung des Rassismus auf der Straße und in den deutschen Institutionen muss beachtet werden. Sie ist menschengemacht und damit veränderbar.
Für uns in Mecklenburg-Vorpommern sind diese Verschränkung und ihre Kontinuitäten im Erinnern deutlich erkennbar. Wir fordern die Landesregierung daher auf, ihrem selbstgewählten Slogan aus dem Koalitionsvertrag "Stabil gegen Rassismus" gerecht zu werden und ihren Handlungsspielraum zu nutzen und aktiv am Verändern mitzuwirken.
Wir stehen zur Verfügung, mit Vertreter:innen der Landesregierung ins Gespräch zu kommen und die Erfahrungen, die Perspektiven und das Wissen von "Pro Bleiberecht MV" für Lösungen mit einzubringen.
Rassistische Gesetze abschaffen!
Mit solidarischen Grüßen,
Pro Bleiberecht in MV
Mitzeichner:innen bundesweit
Jugendliche ohne Grenzen
Roma Center e.V./ Roma Antidiscrimination Network
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Asylkreis Haltern am See
Seebrücke Hamburg
Mitzeichner:innen aus MV
SJD - Die Falken MV
BDP MV e.V.
Greifswald hilft e. V.
Bündnis "Greifswald für alle"
AG Medizin und Menschenrechte Greifswald
Gemeinsinn e.V. Greifswald
Rostock hilft e. V.
interventionistische Linke Rostock