Von Chancenaufenthalt und verpassten Chancen

Kürzlich hat die Bundesregierung ihren Gesetzesentwurf für das „Chancenaufenthaltsrecht“ veröffentlicht. Wir haben uns die geplanten Änderungen angeschaut und fassen sie euch hier zusammen. Außerdem lest ihr hier unsere Meinung dazu.

Der „Chancenaufenthalt“. Seit Monaten fragen uns Menschen mit Duldung, ob das neue Gesetz für sie in Betracht kommt. Seit Monaten müssen wir antworten: Wir wissen es noch nicht. Vor Kurzem wurde dann der Gesetzesentwurf veröffentlicht. Wichtig, wenn ihr das Folgende lest: So steht es im ENTWURF*. Das Gesetz steht ganz am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, das heißt es gilt noch nicht. Es ist auch unklar, ob es in genau dieser Variante später entschieden wird, oder ob verschiedene Parteien noch Änderungen einbringen.

Ihr lest hier in drei Abschnitten unsere Bewertung des Gesetzesentwurfs aus antirassistsischer linker Perspektive. Ja, wir haben an dem Entwurf noch Einiges zu kritisieren. Ja, das klingt als wären wir nie zufrieden. Doch die Bundesregierung hält hier den kleinen Finger hin, während sie mit der anderen Hand die Leute verprügelt. Wir brauchen eine komplette Neuausrichtung der Asyl- und Aufenthaltspolitik und der entsprechenden Gesetze, keine schalen neoliberalen Kompromisse.

  1. Falsche Grundannahmen oder: Wer hat uns verraten?
  2. Chancenaufenthalt: Jede:r ist seines Glückes Schmied
  3. Alle Änderungen im Überblick

Hier findet ihr die Bewertung des Gesetzesentwurfs von PRO ASYL.

1. Falsche Grundannahmen oder: Wer hat uns verraten?

Bereits im Koalitionvertrag haben SPD, Grüne und FDP angekündigt, dass sie das Aufenthaltsrecht etwas netter gestalten wollen. Seit etwa einer Woche liegt nun der Gesetzesentwurf dazu vor. An den bestehenden Verhältnissen und vor allem an den bestehenden Ungerechtigkeiten wird so gut wie nichts geändert. Die neue Bundesregierung fährt die aufenthaltsrechtliche Linie der alten Bundesregierung weiter.

Die letzten Jahre waren geprägt von Gesetzesverschärfungen aus dem Innenministerium Seehofer. Basis dieser Verschärfungen sind rassistische Grundannahmen und ein rechtskonservatives Denken, das mit dem Aufenthaltsgesetz eine klare Trennung zwischen „Wir“ und „Die“, zwischen „Drinnen“ und „Draußen“, zwischen „Gut“ und „Schlecht“ macht.

„Humanität und Ordnung“ heißt das dann im ministerial-deutschen Framing. Das neue Innenministerium übernimmt im Gesetzesentwurf die Terminologie der konservativen Gesetzesmacher:innen. „Humanität“ bräuchte „Ordnung“. Aufenthalt für die Einen bräuchte Abschiebung für die Anderen, so die Erzählung. Diese Vorstellung offenbart eine äußerst paternalistische Betrachtung der Welt. Es gibt nur ein denkbares „positives“ Verhältnis zwischen „uns“ (den Menschen, die hier in Deutschland sein dürfen/sollen) und denjenigen, die hier her kommen und bleiben wollen: Humanität. Wir gestehen zu, wir gönnen, wir sehen Menschen als Opfer von Krieg, Verfolgung und Unterdrückung. Wer diese unsere Gunst nicht „verdient“ (das wird von den Behörden aka BAMF vorher geprüft), muss eben abgeschoben werden in die zumutbaren Verhältnisse anderswo.

Damit entpolitisieren wir die Welt, in der wir leben. Die globalen Ungleichverhältnisse werden nicht als postkoloniale und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse benannt. Dass ein konservativ-christsoziales Innenministerium diese „Ordnung“ aufrecht erhalten will, ist klar. Dass ein sozialdemokratisches Innenministerium nichts Besseres drauf hat, ist bitter.

Oberstes Anliegen einer Bundesregierung, die behauptet für soziale, bürgerliche und liberale Werte zu stehen, muss es sein, dass wir allen Menschen gleichermaßen die Grund- und Menschenrechte zugestehen. Genau das müsste im ersten Gesetzentwurf stehen, den SPD, Grüne und FDP zum Thema Asyl/Aufenthaltsrecht in die Welt werfen:

Alle Gesetze SOFORT streichen, die die Grundrechte von Asylsuchenden und Migrant:innen einschränken!

Um es konkreter zu machen, sammeln wir euch hier die Punkte, die wirklich jede:r Politiker:in selbst ziemlich schnell ergooglen könnte.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte kritisiert:

PRO ASYL kritisiert zB auch noch

Anmerkung: Diese Sammlung ist ziemlich sicher unvollständig. Aber wir machen das hier ehrenamtlich und nicht mit gut bezahlten Referent:innenstellen im Innenministerium.

2. Chancenaufenthalt: Jede:r ist seines Glückes Schmied

Anlass dieses Artikels ist der "Chancenaufenthalt". Hier liegt auch der Schwerpunkt der aktuellen öffentlichen und medialen Debatte. Diese neue Bleibeperspektive ist (gesetzgeberisch betrachtet) ein mini-kleines Zugeständnis an Menschen, denen die Behörden und das Innenministerium sonst das Leben schwer machen. Laut PRO ASYL kommen etwa 100.000 von ca. 200.000 Menschen mit Duldung für den „Chancenaufenthalt“ in Betracht.

Anmerkung: Die Perspektive auf den "Chancenaufenthalt" ist lebensweltlich betrachtet für viele Menschen, die mit Duldung leben müssen eine große Erleichterung und wir wünschen uns diese Erleichterung für jeden Menschen. Eine kritische Betrachtung ist dennoch wichtig für antirassistische fortschrittliche Entwicklungen.

Was ist der „Chancenaufenthalt“?

Im Gesetzentwurf steht, dass Leute, die vor dem 1.1.2017 nach Deutschland gekommen sind, eine Aufenthaltserlaubnis für 1 Jahr „auf Probe“ bekommen, wenn sie bisher keine Straftaten begangen haben, sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen und hinsichtlich ihrer Identität keine falschen Angaben gemacht haben. Nach dem Jahr bekommen sie dann eine Aufenthaltserlaubnis nach §25b, falls sie Arbeit gefunden haben.

Was kritiseren wir am „Chancenaufenthalt“?

So wie die Bundesregierung den "Chancenaufenthalt" (§104c AufentG) verkauft, gaukelt sie Asylsuchenden, Migrant:innen und solidarischen Wähler:innen vor, er sei eine positive Entwicklung der aktuellen Gesetzeslage. Das ist er nicht. Kern des "Chancenaufenthalts" ist das neoliberale und zutiefst falsche Motto „jeder kann es schaffen“ und ein einseitiges Verständnis von "Integration". Der "Chancenaufenthalt" winkt all diejenigen, die fit und kräftig genug sind, um sich ein Aufenthaltsrecht zu erackern und die sich konform verhalten. Unsere Kritik im Detail:

Der „Chancenaufenthalt“ ist kein Spurwechsel, sondern eine Einbahnstraße.
Im neuen §104c ist sehr deutlich festgehalten, dass es nach dem vorgesehen Probejahr, in dem man seine Verwertbarkeit und gute Integration beweisen kann, nur 1 Option weiter gibt: Den „Aufenthalt für gut Integrierte“ nach §25b. Wenn jemand nach dem Jahr eine andere Aufenthaltserlaubnis beantragt, gibt es für die Zeit in der der Antrag bearbeitet wird, keinen aufenthaltsrechtlich sicheren Status (§104c Abs. 1).

Die CDU/CSU schwadroniert seit Jahrzehnten davon, dass Menschen das Asylsystem benutzen würden, um nach Deutschland zu migrieren. Sie labern von „falschen Anreizen“, die man schaffen würde, wenn Leute nach einem abgelehnten Asylantrag noch andere Aufenthaltsperspektiven hätten. Die Ampel übernimmt diese Sicht auf die Dinge und macht eben keinen „Spurwechsel“ möglich, wie er noch vor ein paar Jahren von liberalen Parteien diskutiert wurde. Sie schleust die Leute auf eine Einbahnstraße. Fortschrittliche Politik heißt: Entscheidungsfreiheit ermöglichen.

Eine Verlängerung des „Chancenaufenthalt“ als §25b gibt es nur auf Basis der prekären Abhängigkeit von/vom Arbeitgeber:in.
Weil Menschen, die eine Duldung haben mit Arbeitsverbot sanktioniert werden, schafft der „Chancenaufenthalt“ erstmal die Grundlage, um sich eine Arbeit zu suchen. Wie auch bei anderen halbgaren Bleibeperspektiven wie der Beschäftigungsduldung oder der Ausbildungsduldung entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis vom/von der Arbeitgeber:in, da die Aufenthaltserlaubnis nach §25b an die Arbeitsstelle geknüpft ist. In der Praxis bedeutet das: Leute nehmen beschissene Jobs an, können nicht bzw. schwer widersprechen wenn die Arbeitsbedingungen schlecht sind, und können sich nur schwer innerhalb der Betriebe/Firmen organisieren - weil ganz existentiell ihr Aufenthaltsrecht vom Job abhängt.

Die dahinter liegende "Jeder kann es schaffen“-Ideologie ignoriert hier wie an jedem anderen Ort unserer Gesellschaft die unterschiedlichen Voraussetzungen mit denen Menschen im Leben (und auf dem „freien“ Markt) stehen: Ältere Menschen, Analphabet:innen, Alleinerziehende, Leute ohne Schulabschluss sind beispielsweise soziale Gruppen, die es weit schwerer haben Jobs zu finden als zB junge gesunde Akademiker:innen, denen Sprachelernen leicht fällt. Kurz: Wer das Aufenthaltsrecht auf die Arbeitsfähigkeit aufbaut, ignoriert die Klassenverhältnisse (Moin, SPD!). Auf die Schwierigkeiten zB für psychisch belastete Menschen mit Duldung hat das Zentrum überleben bereits hingewiesen

Die Stichtagsregelung ist ein „Weiter wie gehabt“.
Der "Chancenaufenthalt" beinhaltet eine Stichtagsregelung. Er kommt nur für Leute in Betracht, die vor dem 1.1.2017 eingereist sind. Alle, die später oder ab jetzt kommen, können ihn nicht bekommen. Kurz: Der §104c wird zwar einige Menschen aus Kettenduldungen führen. Er verhindert aber nicht, dass weiter Kettenduldungen entstehen. Eine solche Regelung ist im Grunde ein „weiter wie gehabt“. Sie ermöglicht eben keinen „Spurwechsel“, keine Planungssicherheit für die viele tausend Menschen, sondern ist ein Zugeständnis unter neoliberaler (Selbst-)Verwertungslogik an nur etwa die Hälfte der Menschen (voraussichtlich), die derzeit mit Duldung in Deutschland leben.

Anmerkung: Schon am "Spurwechsel" haben wir kritisiert, dass er kein echter Bruch mit den bestehenden Ungerechtigkeiten ist. Wir erwähnen ihn hier mehrmals, weil aus irgendeinem Grund selbst SPD und Grüne, die dafür vor einigen Jahren noch argumentiert haben, hinter dieser Forderung zurückfallen.

„Identitätsbetrüger“...
Im Koalitionsvertrag war noch nicht die Rede davon, im Gesetzesentwurf taucht es plötzlich auf: Wer über seine/ihre Idenität getäuscht hat, bekommt keinen „Chancenaufenthalt“. Die Vorstellung, dass massenweise Leute falsche Angaben über ihre Identität machen, prägte die Gesetzesverschärfungen der CDU/CSU in den vergangenen Jahren. Ausgangspunkt ist die rassistische Vorstellung vom „Asylmissbrauch“, die mindestens seit den 1980ern in den Parteiprogrammen wohnt. Eine Ampelkoalition sollte solche Vorzeichen streichen anstatt weiter darauf aufzubauen.

Anmerkung: Diese rassistische Sicht auf Asylsuchende beschäftigt uns in diesem Jahr auch anlässlich des 30. Gedenkens an das Pogrom in Lichtenhagen. Wir erwarten im August in Rostock diverse PR-Auftritte von Politiker:innen, die beteuern wie sehr all der Rassismus der 1990er Jahre hinter uns liegt. Das tut er nicht. Denn er prägt nach wie vor - wie hier - unsere Gesetzgebung.

… und Straftäter.
Straftäter bekommen keinen „Chancenaufenthalt“. An mehrern Stellen im Aufenthaltsgesetz gibt es bereits jetzt Formen einer doppelten Bestrafung, die es sonst im deutschen Rechtssystem nicht gibt. Denn man kann eigentlich nur einmal für ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten bestraft werden. Bei Migrant:innen ist das anders: Es gibt die strafrechtliche Bestrafung (Geldstrafe, Knast, usw.)) und die aufenthaltsrechtliche Bestrafung (Ausweisung, Abschiebung). Diese doppelte Bestrafung wird auch im §104c angewendet, wenn die Straftaten über ein bestimmtes Strafmaß hinaus bestraft wurden.

Zudem sieht der „Chancenaufenthalt“ eine Sippenhaft vor, die auch einzigartig im deutschen Recht sein dürfte: Jemand bekommt keinen „Chancenaufenthalt“, wenn irgendjemand in der Kernfamilie (Ehe-/Lebenspartner:innen, Kinder, Eltern) straffällig geworden ist. Das ist so absurd, dass uns einfach nichts anderes dazu einfällt als: WTF?!

Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Das finden wir an sich nicht falsch.

Wir wünschen uns nur, dass auch alle Referent:innen im Bundesinnenmministerium und alle Innenminister:innen ein solches Bekenntnis unterschreiben und danach handeln müssen. Dazu zählt für uns, wie in 1. schon beschrieben, durch den Staat begangene Grundrechtsverletzungen gegenüber Asylsuchenden SOFORT aus den Gesetzen zu streichen.

Gibts auch was Gutes am "Chancenaufenthalt"?
In a way: Ja. Den §104c bekommen auch diejenigen Kinder, die während der mindestens 5-jährigen Zeit in Deutschland volljährig geworden sind. Das bedeutet, Familien werden nicht auseinandergerissen, indem zB einer 19-jährigen Tochter doch weiterhin die Abschiebung droht.

Anmerkung: Das ist nicht selbstverständlich. Denn im Asyl- und Aufenthaltsgesetz gelten Kinder, sobald sie volljährig werden, sonst als allein für sich verantwortlich und fallen ggf. aus dem Aufenthaltsrecht für Familien raus. Das Prinzip, dass Familien zusammenbleiben können, sollte aufs gesamte Aufenthaltsgesetz übertragen werden.

3. Alle Änderungen im Überblick

Im Gesetzesentwurf* stecken weitere Änderungen, allerdings nur wenige:

„Gut integrierte Jugendliche“ (§25a) und „gut integrierte Geduldete“ (§25b) sollen schneller eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Jugendliche schon nach 3 statt 4 Jahren im Alter zwischen 13-27; Erwachsene nach 6 statt 8 Jahren und nach 4 Jahren, wenn sie Kinder haben. Wer von einem „Chancenaufenthalt“ in §25b überführt wird, dem/der werden auch Aufenthaltszeiten mit einer 60b-Duldung angerechnet.

§30 und §32: Die Voraussetzungen für Sprachkenntnisse beim Nachzug von Ehepartner:innen und Kindern werden etwas gelockert.

§44 und §45a: Restplätze in Integrationskursen sind jetzt zugänglich für Leute, die schon 3 Monate eine Aufenthaltsgestattung haben, die sich also im Asylverfahren befinden; der Ausschluss von Leuten aus sog. „Sicheren Herkunftsländern“ und von Leuten, die nach dem 1.8.2019 gekommen sind, soll aufgehoben werden. Selbes gilt für berufsbezogene Sprachkurse. Im Koalitionsvertrag stand noch, dass "alle Menschen, die nach Deutschland kommen" Integrationskurse bekommen sollen. Im Gesetzesentwurf sind Menschen mit Duldung wieterhin ausgeschlossen. Der Zusatz, dass man für die Erlaubnis am Integrationskurs teilzunehmen, "ausbildungsuchend, arbeitsuchend oder
arbeitslos" gemeldet sein muss, führt in der Praxis sehr oft dennoch dazu, dass die Leute keine Erlaubnis bekommen und ist unnötig kompliziert.

§53, Ausweisung von Straftäter:innen, die einen Schutzstatus haben: Hier mehr bei PRO ASYL dazu.

§62 Abschiebehaft: Die sogenannte "Sicherungshaft" vor der Abschiebung bedeutet, dass Leute 6-18 Monate vor der Abschiebung eingeknastet werden können. Das war bisher nur erlaubt, wenn der Staat vor Gericht deutlich machen konnte, dass die Abschiebung innerhalb von 3 Monaten stattfinden würde. Diese 3-Monats-Richtlinie für den Staat soll nun abgeschafft werden, wenn die Betroffenen verschiedene Straftaten begangen haben. Die Straftaten sind im §54 zu finden, in dem es um Ausweisungen geht. Sie sind im Kern eine Liste der rassistischen Stereotype, die Konservative und Rechte in den letzten Jahren forciert haben (Drogen, sexualisierte Gewalt, Sozialleistungsbetrug). Die "Sicherungshaft" ist eine Erfindung des Seehofer-Innenministeriums. Zur Kritik an der Praxis der Abschiebehaft.

*Wir beziehen uns im gesamten Text auf die Synopse zum Gesetzesentwurf von Nicolas Chevreux.
Titelbild: Bildwerk Rostock (flickr)