Letzten Sonntag am 26. April waren wir in Horst. Es war unser erster Besuch in Zeiten von Corona. Unser Fazit: Die Probleme liegen im System – Corona verstärkt sie allerdings.
Alltag in den Aufnahmelagern
Zunächst für diejenigen, die sich das Leben in einem Erstaufnahmelager wie Horst nicht vorstellen können: Die Menschen leben in Mehrbettzimmern in mehreren Häusern auf dem Gelände einer alten NVA-Kaserne im ehemaligen Grenzstreifen.
Aktuell teilt sich eine Familie ein Zimmer bzw. zwei bis zu vier Alleinstehende leben in einem Raum. In den Wohnhäusern werden die Leute weitestgehend nach Herkunftsländern sortiert. Außerdem gibt es alle möglichen "Ausgleichsangebote", mit denen die Unfreiheit rosa angepinselt werden soll: "Schulwerkstatt" statt Schulpflicht, Fitnessräume, Frauencafe, Fernsehraum, „Frisör“. Diese Angebote finden derzeit wegen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen nicht statt. Im Falle einer Corona-Infektion werden alle Kontaktpersonen in einem Haus zusammen isoliert. Sie teilen sich dort Gemeinschaftsbäder und haben keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten.
Um sich die Zeit zu vertreiben, bleibt nur das Internet. Das Internet-Signal ist für diejenigen, die sich keine eigene SIM-Karte leisten können, allerdings so schwach, dass oft bis zu zwanzig Menschen gleichzeitig auf dem Flur in der Nähe des WLAN-Routers das Internet nutzen müssen. Dies bedeutet schon immer: Viel zu wenig Privatsphäre. Wer telefoniert schon gern mit seiner Familie, während 20 Unbekannte mithören können? Man stelle sich vor: Das Smartphone als einizige Kontaktmöglichkeit zu den eigenen Kindern, den Liebsten, den Freund*innen in einer Lebenssituation, in der die Einsamkeit ein stetiger Begleiter ist. Die Enge erhöht zudem derzeit das Infektionsrisiko mit Covid-19.
In einem weiteren Gebäude sitzen die Betreiber und in noch einem anderen separat das Landesamt für innere Verwaltung (zuständig für Geldauszahlung und -kürzung, Organisierung von Abschiebungen und medizinische Versorgung, dem Innenministerium MV unterstellt) und das BAMF, das für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig ist. Außerdem gibt es eine Dienststelle der Landespolizei auf dem Gelände.
Und es gibt zwei Kantinen. Eine für die Bewohner*innen: Jeden Tag das gleiche Essen, aufgewärmter Tee und Handyverbot. Eine andere Kantine für die Mitarbeitenden aller Institutionen: Mit anderem Essen. Bewohner*innen schilderten uns, dass sie weder in der Kantine noch in den Gemeinschaftsbädern den Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten können. Es ist einfach zu eng.
Nostorf-Horst: Ein geschlossenes System
Während fast aller Mahnwachen ist die Chefin des in Horst eingesetzten Betreibers am Einlass der Einrichtung zugegen. Sonntag Nachmittag - eigentlich ein seltsamer Zeitpunkt für eine Führungskraft in der Einrichtung zu sein, könnte man meinen. Und auch ein seltsamer Auftrag des Betreibers: So spricht sie Bewohner*innen an, warum sie zur Mahnwache gehen. Auch beobachtet sie sehr genau, wer die Mahnwache besucht. Immer wieder – und so auch am vergangenen Sonntag – hören wir, dass Menschen deswegen nicht zur Mahnwache kommen, weil sie informelle Sanktionen befürchten. Wir haben den Wirkmechanismus des geschlossenen Systems und informeller Sanktionen bereits vor einem Jahr beschrieben.
Die Kritik am Konzept „AnkER-Zentrum“ ist nicht gern gesehen. Neu ist seit Anfang des Jahres, dass auch das Landesamt für innere Verwaltung in Persona bei den Mahnwachen auftaucht. Der Leiter der Einrichtung möchte anscheinend wissen, was vor Ort passiert. Dies führte am Sonntag dazu, dass eine Reihe aus Landesamt, Ordnungsamt und Polizei die Mahnwache Richtung Aufnahmelager abschirmte. Auf den Hinweis hin, dass dies Leute abschrecken könnte zur Mahnwache zu kommen, antwortete einer der Beamten: „Na, dann haben wir unser Ziel ja erreicht, höhö.“ Wenn dieser schlechte Altherrenwitz nicht so traurig und antidemokratisch wäre, könnten wir uns zur Abwechslung mal über Transparenz von einer dem Innenministerium unterstellten Behörden freuen.
Die Frage bleibt: Wozu ist das Landesamt für innere Verwaltung vor Ort? Es erfüllt dort keine im Versammlungsrecht vorgesehene Funktion, im Gegensatz zu Polizei und Ordnungsamt. Es erweitert lediglich den Blick der allumfassenden Kontrolle des Aufnahmelagers: Wer gehört zu wem? Wer besucht die Mahnwache? Wer redet mit wem?
So weit, so „normal“. Corona brachte der Mahnwache zusätzlich einige Aufmerksamkeit seitens der Behörden: Polizeipräsenz und Ordnungsamt vor Ort, die sehr genau beobachteten, was passiert. Die in Rücksprache mit dem Landesamt sehr genau wissen, wer zu einer Familie oder einer >Wohngemeinschaft<* gehört und wer den Abstand von 1,5 Metern einhalten sollte. Seltsam nur, dass die Corona-Vorsorge im Lageralltag weniger Kopfzerbrechen zu bereiten scheint, wie auch die 6-stündige Wartezeit auf einen Krankenwagen am 15. April erschreckend gezeigt hat.
Aufnahmelager: Kontrolle, Zermürbung, Abschiebung
Aufnahmelager und die Gesetzesverschärfungen der vergangenen Jahre, die zu Unterbringungszeiten von bis zu zwei Jahren dort führen, sind eine Krise an sich. Das Geklüngel in Horst, die allgegenwärtige Kontrolle im Alltag und auch das Beobachten einer demokratischen Mahnwache zeigen, wie sehr kritische Blicke auf das System stören. Denn das System setzt auf Abschottung.
Die Abschottung führt dazu, dass jemand mit traumatischen Erlebnissen in zwei Jahren Aufenthaltszeit dort keine Unterstützung bei der Aufarbeitung bekommt**. Sie führt dazu, dass wir immer wieder Leute treffen, die gar nicht wissen, worauf es im Asylverfahren ankommt, obwohl sie mehrere Monate direkt neben dem BAMF wohnen***. Abschottung heißt: Kontrolle. Abschottung heißt: Abhängigkeit von den Akteur*innen vor Ort. Abschottung ist erklärtes Ziel der „christlichen“ Asylpolitik aus dem Innenministerium.
Rassismus tötet. Institutioneller Rassismus ebnet den Weg: Er zermürbt, er raubt die Selbstbestimmung, er wendet mit jeder Abschiebung Gewalt an. Aufnahmelager und "AnkER-Zentren" sind Teil dessen und in sich geschlossene Systeme. Doch das sind sie nicht per se, quasi vom Himmel gefallen - sondern sie werden von Menschen gemacht und von institutionellen Akteur*innen bewusst geschlossen gehalten. Das Herrschafts-Konstrukt der Sammelunterbringung ist gesamtgesellschaftlich so selbstverständlich geworden, dass es kaum noch in Frage gestellt wird. Doch es geht auch anders.
Wir wollen anders - wir machen weiter!
Wir wollen faire Asylverfahren und einen respektvollen Umgang mit Menschen. Deshalb setzen wir die Mahwachen fort. Die Mahnwache am Sonntag zeigte einmal mehr, wie dringend notwendig die Anwesenheit von Unterstützer*innen vor Ort ist.
Auch mit den notwendigen Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Eindämmung von Corona halten wir die Mahnwachen für einen wichtigen Beitrag um die Isolation des Aufnahmelagers zu durchbrechen und mit den Bewohner*innen in Kontakt zu treten. Wir werden auch am 24. Mai wieder nach Horst fahren, vor Ort unterstützen und unser Statement an die verantwortlichen Akteur*innen senden:
Solidarität mit den Asylsuchenden in Horst! Gegen Ausgrenzung und insitutionellen Rassismus!
Wir fordern weiterhin:
• die gesetzliche Isolation zu beenden und Asylsuchende wieder schnellstmöglich, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, in die Kommunen zu verteilen; faire Asylverfahren zu gestalten, in denen Schutzsuchende genug Zeit haben, sich auf ihre Anhörung vorzubereiten und von Verfolgung und Fluchtwegen zu erholen.
• Nostorf-Horst muss geschlossen werden, da hier nicht die Infrastruktur besteht, die ein so großes Sammellager benötigt, beispielsweise in der Versorgung mit Hebammen, Psycholog*innen und Ärzt*innen.
• Solange Nostorf-Horst besteht, muss durch die Landesregierung an der Verbesserung der Zustände dort gearbeitet werden: Besonders schutzbedürftige Asylsuchende müssen schnellstmöglich auf die Kommunen verteilt werden; ärztliche Versorgung muss sichergestellt werden; unabhängige Asylverfahrensberatung muss installiert und finanziert werden.