Wir haben für die aktuelle Ausgabe der Stadtgespräche Rostock einen Rückblick auf das Gedenken zum 20. Todestag von Mehmet Turgut geschrieben. Ihr könnt den Artikel hier bei uns lesen.
Ende Mai fand übrigens die vorerst letzte Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema NSU-Aufklärung statt. Lest hier die Zusammenfassung darüber, was die Ausschüsse zu Tage gefördert haben von NSU-watch:
Der NSU-Komplex in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Bilanz der Arbeit zweier Untersuchungsausschüsse
"Wer Gedenken will, soll aufklären!"
Zum 20. Todestag von Mehmet Turgut und dem Stand der Aufklärung des rechtsterroristischen Mordes
Im Februar jährte sich der Todestag von Mehmet Turgut zum 20. Mal. Der junge Kurde wurde am 25. Februar 2004 in Rostock-Toitenwinkel vom Nationalsozialistischem Untergrund (NSU) ermordet. Anlässlich dieses Jahrestages gab es in Rostock und Schwerin mehrere Veranstaltungen und Aktionen, um an ihn zu gedenken, und ein Zwischenfazit zu den Ermittlungen gegen das NSU-Kerntrio und dessen Umfeld zu ziehen. Die Initiative „Pro Bleiberecht in MV“ beteiligte sich am Gedenken und organisierte die Veranstaltung in Schwerin. Sie wirft hier einen Blick zurück auf das Gedenken.
Kernforderung: Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg
Die Kernforderung der Familie von Mehmet Turgut ist es seit 10 Jahren, dass der Ort des Verbrechens in Toitenwinkel seinen Namen trägt. Die Familie wünscht sich Anerkennung für ihren Sohn, Bruder und Cousin und dass er nicht vergessen wird. Die Hansestadt schafft es nicht, dieser Forderung nachzukommen, weil die zuständigen Ortsbeiräte und eine Hand voll lokale Anwohner:innen sich gegen diesen Akt des Erinnerns und Gedenkens verweigern.
Hierzu vertiefend: www.katapult-mv.de/artikel/mehmet-turgut-weg-weiterhin-gefordert
Gedenken der Zivilgesellschaft
Verschiedene Vereine und Initiativen mahnten in diesem Jahr Mehmet Turgut in unterschiedlicher Art und Weise nicht zu vergessen, z.B. mit einer Plakataktion, einer Ausstellung und einer Gedenk-Demonstration. Soziale Bildung e.V. stellt unter www.politischbilden.de eine Handreichung mit Unterrichtsmethoden zur Erinnerung an Mehmet Turgut zur Verfügung.
Städtisches und staatliches Gedenken
Die AG Gedenken der Hansestadt Rostock lud zu einer Podiumsdiskussion im Peter-Weiss-Haus und fragte nach der Aufarbeitung des NSU-Komplex in MV.
Die Hansestadt organisiert mittlerweile auch ein jährliches Gedenken, das kurz nach der Selbstenttarnung des NSU von antifaschistischen Gruppen angestoßen wurde. Die Stadt enthüllte hierbei eine neue Beschriftung des Denkmals für Mehmet Turgut. In diesem Jahr sprachen neben der Oberbürgermeisterin auch der SPD-Innenminister Christian Pegel, der diesen Rahmen wählte, um sich erstmals im Namen der Landesregierung bei Mehmet Turguts Familie für die Fehler in der Aufarbeitung des Mordes zu entschuldigen.
Anwesend bei der Veranstaltung war auch ein Vertreter des türkischen Konsulats. Die Türkei wird derzeit von der konservativ-islamischen AKP in Koalition mit der rechtsextremen MHP regiert. Aktivist:innen kommentierten diese gedenkpolitische Farce des türkischen Staates mit einem Banner mit der Aufschrift "Faşizme gecit yok" (Kein Durchkommen dem Faschismus), denn der türkische Staat würde keine Sekunde mit dem Gedenken an Mehmet Turgut verbringen, wäre er 2004 in Kayalık oder Istanbul von türkischen Faschisten ermordet worden. Im Gegenteil: Die MHP und ihnen nahestehende türkisch-faschistische Gruppierungen propagieren in der Türkei eine rassistische Ideologie mit Expansionsbestrebungen, die sich immer wieder gewalttätig gegen Kurd:innen, syrische Geflüchtete und andere rassifizierte Gruppen richtet.
Ausweitung des Gedenkens nach Schwerin
In einer weiteren Veranstaltung Anfang April in Schwerin luden wir mit dem Schweriner Verein "Was jetzt?! e.V." und NSU-Watch zu einer Podiumsdiskussion. Caro Keller (NSU Watch), ein Vertreter des Rostocker Bündnis "Mord verjährt nicht" und Historiker Paul Räubers sprachen darüber wie man den Kampf für das Erinnern als mv-weite Aufgabe fassen kann. Denn das NSU-Kerntrio pflegte seit den 1990er Jahren Kontakte nach MV und profitierte von den Nazi-Strukturen in der Gegend. Es kam mit zwei Banküberfällen in Stralsund zu viel Geld und hielt sich über die Jahre weit verstreut im Bundesland auf, ihre Spuren führen nach Krakow, Anklam und Usedom. Auch jetzt, wo sich der Abschnitt NSU im zweiten Untersuchungsausschuss seinem Ende nähert, sind diese Netzwerke nicht ausreichend ausgeleuchtet. Die Ambitionen eines Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) sind eng verknüpft mit dem öffentlichen Druck und Interesse, das diesen begleitet.
Aufklärung braucht das Erinnern
Die Aufklärung des NSU in MV stagniert. Es bedürfte auch außerhalb Rostocks einer kritischen Zivilgesellschaft, die sich des Themas annimmt und dabei die Perspektiven der Betroffenen von rassistischer Gewalt ins Zentrum setzt. Denn dem Aufarbeiten und Erinnern kann nur durch den stetigen Druck von Familien, Freund:innen und lokaler Initiativen ein Verändern der rassistischen gesellschaftlichen Verhältnisse folgen.
In Schwerin, wo der Untersuchungsausschuss Ende Mai voraussichtlich zum letzten Mal zum Thema NSU tagt, fehlt dies bisher. Deutlich wurde dies beispielsweise, als das Bündnis "Schwerin für alle" in der Woche vor dem Todestag kurzfristig und unkommentiert einen Redebeitrag zum Gedenken an Mehmet Turgut von der Redner:innenliste auf der örtlichen Demokratie-Demo strich.
Die Gesamtschau zeigt weiterhin die rassistischen Kontinuitäten in staatlichen Behörden und den unhaltbaren Normalzustand des gesellschaftlichen Desinteresses auf. Es brauchte die Selbstenttarnung des NSU 2011, um bei der rechtsterroristischen Anschlagsserie von rassistischen Morden auszugehen – eine Tatsache, die Angehörige der Opfer viele Jahre vorher schon formuliert hatten. In allen Anschlagsorten brauchte und braucht es das stetige Engagement der Familien, Freund:innen und lokaler Initiativen um Druck auf die Untersuchungsauschüsse auszuüben und allgemein ein Gedenken und Erinnern möglich zu machen.
Die nächsten Untersuchungsausschüsse finden am 27. Mai und am 3. Juni statt. Ab Juni richtet der PUA sein Augenmerk auf rechtsterroristische Organisationen nach dem NSU, wie dem Prepper-Netzwerk Nordkreuz. NSU-Watch ruft dazu auf, jeweils den öffentlichen Teil der Sitzungen mit kritischem Blick zu besuchen. Informationen zu Terminen und Zugang auf www.nsu-watch.info und auf der Webseite des Landtags MV.
Mehr Infos zu Mehmet Turgut:
www.kein-vergessen-mv.de/mehmet-turgut
Mehr Infos zu NSU-Watch in MV:
www.nsu-watch.info/category/untersuchungsausschuesse/mecklenburg-vorpommern/
Diesen Artikel hat die Initiative Pro Bleiberecht in MV verfasst. Sie setzt sich MV-weit für die Belange von Asylsuchenden ein. Gedenkpolitisch engagiert sie sich zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, das sich in den ersten Tagen gegen die Aufnahmestelle für Asylsuchende richtete und für das Gedenken an Dragomir Christinel, Mohamed Belhadj und Mehmet Turgut - drei Opfer rechter Gewalt, die in MV Asyl gesucht hatten. Mehr Infos: www.bleiberecht-mv.org
Titelbild: Bildwerk Rostock (flickr)