Polizei MV: Deutsche Straftäter*innen labeln

Ein Ansatz mit Potential und Hindernissen

Seit Anfang Februar 2020 gibt es einen Erlass vom Innenministerium MV, demnach die Polizeipressestellen immer die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen nennen müssen - auch wenn sie Deutsche sind. Ein interessanter Ansatz mit Hindernissen.

Sprache und Realität - Realität und Sprache

In den Sozialwissenschaften macht man sich schon länger Gedanken darüber, welchen Einfluss Sprache auf die Gesellschaft hat - auf Vorteile, kollektives Denken, (Un-)Gleichheitsverhältnisse, Diskriminierung - und umgekehrt. Sprache spiegelt zum Einen die Verhältnisse in einer Gesellschaft wider, prägt sie aber auch. Wie das rund ums Thema >Flüchtlinge< aussieht, haben zB Margarete Jäger und Regina Wamper sehr ausführlich analysiert. In den vergangenen Jahren gab es zudem immer wieder Debatten um das sogenannte "Framing". Es geht darum, wie über einen politischen Sachverhalt gesprochen wird und welche Vorstellungen und Gefühle bestimmte Begriffe bei Leser*innen und Zuhörer*innen auslösen.
Auch Critical-Whiteness-Aktivist*innen fordern, dass man auch das, was sich eine Gesellschaft als "die Norm"vorstellt, benennen muss.
Vor diesem Hintergrund gilt es die neue Regelung des Innenministeriums kritisch zu reflektieren.

Mehr deutsche Straftäter*innen?

Derzeit lässt sich feststellen, dass in medialer Berichterstattung die Staatsangehörigkeiten von Nicht-Deutschen häufig genannt werden, die von Deutschen aber meistens nicht.
Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Eine Befragung in Sachsen 2016 unter Leser*innen einer Lokalzeitung ergab beispielsweise, dass viele Menschen die falsche Vorstellung haben, dass Nicht-Deutsche mehr Straftaten begehen als Deutsche. Diese Vorstellung haben nicht nur Neonazis und Rassist*innen, sondern auch "ganz normale" Menschen, die sich nur oberflächlich mit dem Thema auseinandersetzen.

Mit der neuen Weisung bekommen Journalist*innen nun die Möglichkeit immer die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen zu nennen, denn die Polizei in MV wird sie immer bekannt geben. Die breite Öffentlichkeit erhält somit die Chance einen realistischeren Eindruck darüber zu bekommen, welche gesellschaftliche  Gruppe welchen Anteil an Straftaten ausmacht.


Beispiel Sexualisierte Gewalt

Seit den Übergriffen am Köln
er Hauptbahnhof an Sylvester 2016 gibt es eine ausgeprägte mediale Aufmerksamkeit für sexualisierte Übergriffe durch Migranten. Medien berichten eher über Gewalt durch Migranten als durch Deutsche. Was fehlt, ist eine öffentliche Debatte über patriarchale und sexistische Gewalt in der deutschen Gesellschaft - denn die meisten Täter in Deutschland sind deutsche Männer.
Das Potential der neuen Regelung liegt genau in solchen Diskurs-Feldern, die rassistisch aufgeladen sind und von Rassist*innen und Rechten bewusst instrumentalisiert werden. Durch die Nennung von Staatsagehörigkeiten könnte Leser*innen und Zuhörer*innen vermehrt auffallen, dass zB sexualisierte Gewalt ein patriarchales und kein kulturelles Problem ist.

Hindernis 1: Rassistische Verzerrungen bei der Polizei

Der Effekt der neuen Weisung ist bisher nicht überprüft. Die Bundesländer, die bereits entsprechend dieser Richtlinie arbeiten, haben die Auswirkungen noch nicht evaluiert. Wir sehen zwei große Hindernisse in den Polizeistrukturen, die dazu führen werden, dass am Ende auch bei einer konsequenten Nennung aller Staatsangehörigkeiten kein realistisches Abbild der Verteilung von Straftaten entsteht.

1. Polizeiliche Ermittlungen und Kriminalstatistiken sind keine seriöse Quelle für ein realistisches Abbild der tatsächlichen Verbrechensraten. Das haben wir an anderer Stelle bereits ausführlich erklärt.
Das Kernproblem: Schon wenn die Polizei Leute kontrolliert oder Ermittlungen beginnt, folgt sie einem Auswahl-Prozess, der nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen abbildet. 


Beispiel
Innenstadt Rostock

Am Kröpeliner Tor in Rostock wird ein „nichtdeutsch“ aussehender Jugendlicher mit höherer Wahrscheinlichkeit kontrolliert, als der Geschäftsführer einer angrenzenden Ladenkette. Die Polizei weiß nicht mit Gewissheit, dass der Geschäftsführer keine Drogen dabei hat, keine Steuern hinterzieht und seine*n Partner*in nicht misshandelt. Sie macht bei ihm trotzdem keine "verdachtsunabhängige Personenkontrolle".
Solange es Racial Profiling gibt, bleibt der Eindruck über den Anteil von Tatverdächtigen also falsch - weil bereits der Verdacht verzerrt ist. 

2. Die Pressestellen der Polizei geben nicht zu jedem Einsatz eine Pressemeldung heraus. Sie entscheiden über welche Einsätze sie berichten. Es ist also keineswegs garantiert, dass die Anzahl der Nennungen „deutscher/schweizer/kasachischer/usw. Täter“ die reale Verteilung der Straftaten unter Deutschen, Schweizern und Kasachen widerspiegelt. Auch Polizist*innen und Polizeipressesprecher*innen sind geprägt von ihrer Vorstellung darüber, was die Öffentlichkeit für interessant hält. Eine "neutrale" Auswahl gibt es also nicht.

Hier hilft nur echte Transparenz: Wie sieht die Handlungsanweisung zur Auswahl der veröffentlichten Einsätze aus? Nur so kann eine kritische Öffentlichkeit den Effekt der neuen Anweisung auch nachvollziehen und überprüfen.

Hindernis 2: Rassistische Verzerrung in der öffentlichen Wahrnehmung

Ein großes Hindernis liegt in der Wirkungsweise der Medien. Hierauf haben weder Innenministerium noch Polizei einen Einfluss.

  • Die Auswahl von Nachrichten hängt davon ab, wer sie auswählt. Journalist*innen und Redaktionen entscheiden, über welche Ereignisse sie berichten und wie. Diverse Untersuchungen zeigen, dass Medien dazu tendieren reißerische Nachrichten auszuwählen, hinter denen Empörung und Kaufkraft stehen. Da fällt die Wahl eher auf Fälle, die in einen ohnehin rassistisch aufgeladenen Diskurs passen.

  • Selektive Wahrnehmung: Menschen lesen nur das, was sie interessiert. Sie lesen bevorzugt Informationen, die zu ihrem Weltbild passen und mit denen sie sich wohlfühlen. Allen bekannt sind die Facebook-Bubbles. Aber auch in der analogen Welt lesen Linke eben eher taz als Ostseezeitung. Das bedeutet, selbst wenn die Polizeipressestellen alle Einsätze mit allen Staatsangehörigkeiten veröffentlichen würden - das ist nicht das, was die breite Öffentlichkeit zu sehen bekommt. Denn wieviele Leute lesen schon täglich ALLE Meldungen auf Blaulicht MV? 

  • Nachrichten  verbreiten sich heutzutage durch die sozialen Medien. Die Frage „Bilde ich mit meinem Tweet/Post/Story die Verhältnisse in der Gesellschaft gerecht ab?“ stellt sich dabei wohl niemand, bevor er*sie etwas postet.

Beim deutschen Presserat und unter Journalist*innen ist seit Langem grundsätzlich umstritten, ob die Staatsangehörigkeit eines*einer Täter*in - egal ob deutsch oder nicht - überhaupt genannt werden sollte. Es ist damit zu rechnen, dass nicht alle Journalist*innen die Information aus den Polizeimeldungen übernehmen werden. Es ist auch damit zu rechnen, dass die Staatsangehörigkeit von Nicht-Deutschen weiterhin eher genannt wird als die von Deutschen. Tagesaktuelles Beispiel: "Versuchter Raub durch...? "

Polizeimeldungen beschreiben Tatabläufe. Die Staatsangehörigkeit zu nennen, löst nichts anderes aus als eine diffuse Vorstellung, dass der Ablauf etwas mit der Herkunft der Täter*innen zu tun hat. Wenn sie nur oder vermehrt bei Nicht-Deutschen genannt wird, greifen wiederum  rassistische Vorurteile: Migrant*innen, Geflüchtete und Menschen of Colour werden eher als homogene Masse wahrgenommen. Deutsche Täter*innen haben hingegen das "Privileg" Arschlöcher, verirrte arme Seelen (sog. "Einzeltäter") oder psychisch krank statt Terroristen zu sein. 
In der Berichtertsattung muss es aber eigentlich darum gehen eine differenzierte Diskussion zu führen, die die tatsächlichen Entstehungszusammenhänge für Kriminalität beleuchtet.


Beispiel Randale im Bus
:
Nonstop News Rostock berichtete vor einigen Wochen zu einer Polizeimeldung über randalierende junge Männer im Nachtbus. Der Post wurde fast 500 mal geteilt.
 
Die beiden Meldungen illustrieren die Debatte, ob die Staatsangehörigkeit genannt werden sollte, recht gut: Laut Pressekodex gilt die Richtlinie: Nur, wenn die Staatsangehörigkeit in direktem Zusammenhang mit der Tat steht. Tut sie das im vorliegenden Fall? Nein. Erklärt die Staatsangehörigkeit, warum die jungen Männer getan haben, was sie getan haben? Nein. Die Staatsangehörigkeit wurde in den sozialen Medien verbreitet und thematisiert, obwohl die Polizei sie nicht genannt hatte. 

Hindernis 3: Motivation des Innenministeriums

Der Ansatz auch deutsche Täter*innen als deutsch zu markieren und in den Medien über problematische Aspekte der deutschen Kultur und Gesellschaft (Rassismus, Patriarchat, soziale Ungleichheit) zu sprechen, ist einen Versuch wert. Wir sind gespannt und hoffen, dass so eine weniger diskriminierende verzerrte Berichterstattung zustande kommt, die zu einer geschärften öffentlichen Wahrnehmung für Probleme statt Nationalitäten führt.

Kritisch sollte dennoch die Motivation des Innenministeriums MV zur neuen Weisung betrachtet werden. Denn Caffier begründet sie keineswegs damit, dass er Diskriminierung verhindern will. Er begründet sie damit, dass er AfD und anderen Rassist*innen zuvor kommen will, die bisweilen behaupten Polizei und Presse verheimtlichten absichtlich die Nationalität von Tatverdächtigen. Im Kern schenkt das Innenministerium autoritären Rechten in vorauseilendem Gehorsam einen Erfolg. 

Wir wünschen uns vom Innenministerium echtes Umdenken! 
  • Dazu gehört neben Strategien, mit denen die Verzerrung des öffentlichen Diskurses abgebaut werden kann, auch eine Strategie, um Diskriminierung abzubauen. Das heißt: Racial Profiling und rassistische Polizeikontrollen abschaffen (s.o.)!
  • Transparenz darf nicht bei Sprachpolitik aufhören, deswegen fordern wir auch eine schnelle und transparente Aufklärung der Verbrechen des NSU in MV!
Wer weiterlesen will, könnte sich für das, das und das interessieren.