Lichtenhagen-Gedenken 2023

Am 22. August haben wir gemeinsam mit Rostock hilft e.V. die Kundgebung „Damals wie heute: No Lager!“ vor dem Rostocker Rathaus organisiert. Wir ziehen die Verbindungslinie vom „Asylkompromiss“ zum bis heute bestehenden institutionellen Rassismus in den Asylgesetzen.

Wir dokumentieren hier die Redebeiträge von der Kundgebung.

No Lager!

Redebeitrag von Rostock hilft e.V.

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Beitrag kommt bald

Die Bedeutung der Migrant:innenselbstorganisationen im Antirassismus

Redebeitrag von Seyhmus Atay-Lichtermann

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Beitrag kommt bald

Das Pogrom entstand nicht aus dem Nichts

Redebeitrag vom Roma Center e.V.

Die Täter sollen bestraft werden, und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden.

Redebeitrag der Initiative „Mord verjährt nicht“

Keine zwölf Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen wurde in Toitenwinkel Mehmet Turgut Opfer eines rassistischen Mordes. Am 25. Februar 2004 wurde er vom rechten Terrornetzwerk „NSU“ ermordet.

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Mehmet Turgut wurde 1977 in Kayalık, im Süden der Türkei, geboren. Schon als Jugendlicher versuchte Mehmet Turgut, nach Deutschland zu kommen, um sich hier eine Existenz aufzubauen. Sein Bruder Mustafa berichtet darüber:
„Memo – so nannten wir meinen großen Bruder Mehmet. Ich war 12 Jahre alt, als er in Deutschland ermordet wurde. […] Wir hatten […] nur wenig gemeinsame Zeit miteinander, denn Memo war häufig in Deutschland. Seine Stimme hörte ich oft nur durchs Telefon. Deutschland war wie ein Sog für ihn. Er hatte keine Arbeitserlaubnis dort, keine Aufenthaltserlaubnis. Er wurde abgeschoben und kehrte doch immer wieder dorthin zurück. Ich glaube, dass es ihm nicht sehr gut ging, dort. Und doch bedeutete Deutschland für ihn Hoffnung.“
Nach mehreren Abschiebungen arbeitete Mehmet Turgut 2004 im Imbiss eines Freundes in Rostock. Am Morgen des 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut an seinem Arbeitsplatz in Toitenwinkel erschossen. Für seine Familie in der Türkei war schnell klar, wer als Täter in Frage kommt. Darüber berichtet Mustafa Turgut:
„Mein Vater hatte zuvor ja einige Zeit in Deutschland gearbeitet. Er kannte Ausländerfeindlichkeit. Er war sich sicher: Das waren bestimmt die Kahlköpfe. […] Wir hatten keine andere Erklärung, doch keiner hat uns geglaubt. Das war das Schlimmste. Nur mein Vater war sicher: Es waren die Neonazis und eines Tages kommt die Wahrheit heraus.“ 
Die deutsche Polizei ignorierte dennoch Rassismus als ein mögliches Tatmotiv und ermittelte gegen die Familie. Mustafa Turgut beschrieb diese Zeit später als einen „Alptraum für die Familie“. Erst mit der Selbstenttarnung des Terrornetzwerks „NSU“ mussten auch die Ermittlungsbehörden und der deutsche Staat den Hintergrund der Tat anerkennen.
Die Neonazis des Terrornetzwerks, die insgesamt zehn Menschen ermordeten und unzählige Verletzten, gehören zur sogenannten „Generation Lichtenhagen“. Sie waren Anfang der 1990er großgeworden. In Ostdeutschland hatten sie die Erfahrung gemacht, mit rassistischer Gewalt wie in Lichtenhagen den Willen der schweigenden Mehrheit zu erfüllen und für ihre Gewalttaten vom Staat keine Konsequenzen fürchten zu müssen. Mit diesem Selbstbewusstsein und mithilfe der Netzwerke, die Anfang der 1990er Jahre entstanden waren, ermordeten sie zwölf Jahre nach dem Pogrom in Lichtenhagen Mehmet Turgut.
Der Mord an Mehmet Turgut und das Pogrom in Lichtenhagen sind aber nicht nur über die Täter*innen und ihre rassistische Motivation miteinander verbunden. Die beiden Gewalttaten machen auch deutlich, dass „Erinnern“ nicht immer auch „Verändern“ bedeuten muss. Im vergangenen Jahr haben wir auf der großen Demonstration zu den 30. Jahrestagen des Pogroms in Lichtenhagen die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg gefordert. Bis heute ist dieser bescheidene Wunsch der Familie nach der Umbenennung eines keine zweihundert Meter langen Weges nicht umgesetzt. 
Erinnern an rechte Gewalt lässt sich nicht daran messen, wie viele Politiker*innen bei offiziellen Anlässen Blumen ablegen oder wie viele Kamerateams vor Ort sind. Erinnern an rechte Gewalt lässt sich nur an konkreten Veränderungen messen. Es muss sich daran messen lassen, ob die Forderungen der Betroffenen erfüllt sind und daran, wie viel dafür getan wurde, damit sich die rechte Gewalt nicht wiederholen kann. Mustafa Turgut hat dies so formuliert:
„Mein Bruder und die anderen Opfer werden nicht wieder zurückkommen, aber wir wünschen uns alle, dass wir unsere Antworten bekommen. Die Täter sollen bestraft werden, und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden. Wir wünschen uns umfassende Aufklärung. Wir wünschen uns, dass so etwas in Deutschland nie wieder passiert.“
Die Erinnerung an rechte Gewalt darf nicht bei ritualisierten Medienevents stehenbleiben. Wir müssen gemeinsam mit den Betroffenen für ihre Forderungen kämpfen: für die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg! Gegen rassistische Gesetze! Für die umfassende Aufklärung des NSU-Komplex!

Größtmögliche Gesundheit und best mögliche medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht.

Redebeitrag von Ernst-Ludwig Iskenius vom Psychosozialen Zentrum Rostock

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Dieses Recht gilt unterschiedslos für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe und sozialer Stellung, orientiert an den Möglichkeiten und Ressourcen, die die jeweilige Gesellschaften haben

Für Asylsuchende und einem Großteil von Geflüchteten gilt das in unserer relativ reichen Gesellschaft offensichtlich nicht:

Die medizinische Versorgung ist lediglich für sie auf akute gesundheitliche Störungen beschränkt. Das ist einzigartig und betrifft nur Geflüchtete, die bei uns Schutz gesucht haben. Chronifizierte gesundheitliche Beeinträchtigungen sollen erst dann behandelt werden,wenn sie einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Dieses ist im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt. Dieses wurde als Reaktion auf die rassistischen Angriffe in Lichtenhagen 1993 bundesweit eingeführt. Man will bis heute abschrecken und hofft, das Leben dieser schutzsuchenden Menschen so schwer wie möglich zu machen. Dieser selektive Ausschluss von medizinischen Leistungen ist für uns als Heilberufler:innen nicht tragbar und muss als institutionellen Rassismus gebranntmarkt werden. Gesundheit ist unteilbar!!!

Geflüchtete haben schon aus Gründen von Sprachbarrieren häufig unzulänglichen Zugang zu unserem Gesundheitsversorgungssystem, es gibt bisher keine geregelte Finanzierung zur Sprachmittlung im Gesundheitswesen, ganz im Gegensatz zum Polizei- und Gerichtswesen.

Das hat häufig erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen, die ihr Leid und ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht adäquat äußern können. Es führt zu überdurchschnittlich häufigen Fehldiagnosen und Verschleppungen von dringend notwendigen medizinischen Behandlungen. Dieser Umstand hemmt obendrein den geregelten Betrieb in Praxen und Krankenhäusern. Den berechtigten Ärger über den ausgrenzenden Mehraufwand für das Personal müssen häufig Geflüchtete einstecken, weswegen sie sich häufig wegen ihres Status ausgeschlossen und minderwertig fühlen. Besonders gravierend wirkt sich das bei der sprechenden Medizin aus. Viele sind von vornherein davon ausgeschlossen, nur weil eine Sprachmittlung fehlt. Das Recht auf Behandlung in der erworbenen Muttersprache, wie es in anderen Ländern selbstverständlich ist, wird hier mit Füßen getreten.

Geflüchtete haben nicht die Freiheit, sich dort niederzulassen oder zu leben, wo es ihren Bedürfnissen entspricht. Selbst Familien (Ausnahmen Eltern mit minderjährigen Kindern) werden auseinandergerissen, Freund:innen und Verwandte getrennt. Dagegen werden sie häufig in Lagern eng zusammengepfercht, manchmal wie z.B. Horst ohne ausreichende Infrastruktur und Zugang zu selbstverständlicher Grundversorgung. In nicht wenigen Fällen müssen sie Monate, einige auch Jahre zwangsweise in Verhältnissen wohnen, die überhaupt keine Privatsphäre zulassen wie z.B. in der Industriestrasse hier in Rostock. Das macht krank, krank wegen ausgrenzender rassistischer Strukturen. Besonders traumatisierte Geflüchtete, die vom Gesetz her zu den besonders schutzbedürftigen zählen, werden durch solche Unterbringungsverhältnisse weiter geschädigt und erst richtig krank.

Erniedrigend ist auch die Essensversorgung, die nur unzureichend auf Gewohnheiten und kulturelle Aspekte Rücksicht nimmt. Häufig ist die eigene Zubereitung ihres Essens die letzte Möglichkeit, ihre Selbstbestimmung und selbst Betätigung in einem durchverwalteten Alltag zu bewahren. Auch hier wird ihnen das letzte Stück Würde ihnen genommen, indem ihnen vorgegeben wird, was sie zu essen haben. Auch das ist ein deutlicher Unterschied zur deutschen Bevölkerung.

Ein besonders gravierender Eingriff in Würde und körperlicher und seelischer Unversehrtheit ist die bisher in der Öffentlichkeit kaum thematisierte Praxis, ist: Menschen werden aus stationärer Behandlung polizeilich, selbst nachts, abgeholt, um sie abzuschieben. Das Krankenhaus ist für sie kein sicherer Ort mehr, wo man seine körperlichen und seelischen Wunden voraussetzungslos behandeln kann. Diese institutionelle Praxis ist absolut inakzeptabel und sollte für gesetzeswidrig, menschenfeindlich und als rassistisch erklärt werden. Nach meinen Informationen hat bisher nur Schleswig-Holstein diese menschenunwürdige Praxis offiziell eingestellt. MV sollte sich dem anschließen.

Es gibt noch viele Beispiele, die in der Gesundheitsversorgung von Geflüchteten, rassistisch benannt werden müssen. Als Zivilgesellschaft müssen wir uns mit aller Macht dagegen auflehnen, allein um die rechtsstaatlichen und demokratischen Werte zu verteidigen. Schädigende, rassistische Spuren zum Ausschluß des Menschenrechts auf bestmögliche Gesundheit fördern rassistisches Denken und befeuern rassistische Gewaltmasssnahmen. Sie machen letztlich unsere Gesellschaft kaputt. Offensichtlich sind Geflüchtete Menschen 2. Klasse. Dem müssen wir entschieden entgegen treten. Es gibt nur ungeteilte Menschenrechte.

Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!

Redebeitrag von Pro Bleiberecht MV

Pro Bleiberecht ist mit einigen anderen antirassistischen Gruppen in diesem Jahr an der Kampagne „Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!“ dran. Im Oktober gibt es dazu bundesweit Aktionstage. Diese Aktionstage gibt es aus zwei Gründen:
1. Viele Menschen wissen gar nicht, was das Asylbewerberleistungsgesetz eigentlich ist. Wir müssen es daher erstmal wieder in die öffentliche Debatte bringen, um dann 
2. gemeinsam solidarisch für die Abschaffung einzutreten. Und zwar schnell.
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Das „Asylbewerberleistungsgesetz“ wurde mit weiteren Gesetzesverschärfungen 1992 kurz nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen von Union, FDP und SPD verabschiedet. Die Politik vertrat damals wie heute die falsche Auffassung, dass sich geflüchtetenfeindlicher Rassismus bekämpfen lässt, indem man die Betroffenen dieses Rassismus aus dem Blickfeld der Rassist:innen schafft, indem man die Grenzen abschottet und den Abschiebedruck intensiviert. Diese Annahme ist falsch – und doch gelten die meisten Gesetze, die mit dem „Asylkompromiss“ verabschiedet wurden, bis heute. 
Das Asylbewerberleistungsgesetz ist rassistisch, weil es ungleiche Regeln für Asylsuchende und Geduldete festlegt. Für sie gelten nicht die regulären Sozialgesetze. Hier ein kurzer Überblick: 
  • Asylsuchende und Geduldete müssen von ca. 80% des Existenzminimums leben. Das wären 410€ (statt 500€ wie Bürgergeld), wenn es voll ausgezahlt würde.
  • Wird es aber nicht, weil sich das Seehofer-Ministerium vor einigen Jahren einen kleinen Trick zum Geldsparen und Leute-abschrecken ausgedacht hat: Geflüchtete in Sammellagern werden zur sog. „Schicksalsgemeinschaft“ erklärt und landen in Bedarfsstufe 2. Sie bekommen also nur ca. 370€.
  • In Rostock werden darüberhinaus derzeit in einigen Unterkünften nur Sachleistungen für Essen ausgegeben – unabhängig davon ob die Leute das Essen dort auch wirklich Essen. Schwupps sind sind die Aozialleistungen nur noch bei 210€ pro Monat. 
  • Asylsuchenden steht auch nicht wie Leuten, die Geld vom Jobcenter bekommen, ein Freibetrag zu, mit dem sie kleine Ersparnisse ansammeln können, um zB Altersarmut etwas abzupuffern.
  • On top kommt die schlechter gestellte medizinische Versorgung, von der bereits mein Vorredner gesprochen hat und Leistungskürzungen auf das sog. „physische Existenzminimum“, die als Druckmittel eingesetzt werden um Abschiebungen leichter organisieren zu können. 
All diese Einschränkungen gelten übrigens nicht für ukrainische Geflüchtete, die nach dem 24. Februar 2022 gekommen sind. Mehr als eine Million Menschen konnte und kann mit regulärer Sozialhilfe versorgt werden. Das zeigt uns, dass es genauso möglich wie es korrekt ist, Schutzsuchende nicht anders und diskriminierend zu behandeln.
Das Asylbewerberleistungsgesetz zeigt, wie kreativ die Schreibtischtäter:innen in den Ministerien sind, wenn es darum geht die Freiheit von Menschen einzuschränken. In der Vergangenheit wurden einzelne dieser Einschränkungen mehrfach für verfassungswidrig erklärt, doch das führt keineswegs zu einer Besserung. Die Gesetze bleiben einfach bestehen, werden neu interpretiert oder „nachgebessert“ – juristische Kniffe, die lediglich dazu dienen, dass wieder über viele Jahre hinweg Klageverfahren geführt werden müssen, die dann wieder kein tatsächliches Ergebnis bringen. 
Das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein Naturgesetz. Es wurde von Menschen gemacht und es kann von Menschen geändert werden. 
Jede Behörde und jede:r Sachbearbeiter:in darin entscheidet wieviel des eigenen Ermessensspielraums sie nutzen möchten und wie repressiv oder liberal sie Entscheidungen treffen. Jede Behörde entscheidet zudem, ob sie Menschen zu ihrem Recht verhilft oder den Zugang dazu blockiert. 
So könnte das Sozialamt Rostock sehr einfach das Urteil des Bundesverfassunsgericht umsetzen und die Einstufung von Bewohner:innen von Sammellagern in Bedarfsstufe 2 nicht mitmachen. Es könnte auch ärztlichen Empehlungen für Behandlungsbedarfe folgen anstatt diese durch medizinisch nicht qualifiziertes Personal immer wieder in Frage zu stellen. Es könnte automatisch die gesetzlich vorgesehene Umstellung auf dem Bürgergeld gleichgestellte Leistungen nach 18 Monaten vornehmen, anstatt auf Anträge dazu zu warten – die Betroffene oft nicht stellen, weil sie nichts davon wissen. 
Die Hansestadt Rostock könnte sich zudem in Vertretungen wie dem Städte- und Gemeindetag gegenüber der Bundesregierung dafür einsetzen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft wird. 
Die Landesregierung von MV wiederum könnte im Bundesrat eine Inititiave zur Abschaffung des Gesetzes einbringen. Das fordern wir übrigens auch in einem Offenen Brief, den wir heute an die Landesregierung geschickt haben und den wir morgen veröffentlichen. Also kuckt morgen auf unsere Homepage und teilt den Brief auf Instagram und Facebook.
Erinnern heißt verändern. Dieser Slogan der heutigen Kundgebung ist dem Gedenken an das rassistische Attentat in Hanau entlehnt. Es gilt dort wie hier. Sich einmal im Jahr zu treffen und an ein lang vergangenes Ereignis zu erinnern ist kein Selbstzweck. Der gesellschaftliche Nutzen kommt davon, dass wir daraus Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen, für eine progressive Gegenwart.
 
Anlässlich des 30-jährigen Bestehens des sog. „Asylkompromisses“ und 31 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen fordern wir deswegen:
Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft werden, denn es ist rassistisch. 
Gleiche Rechte für alle!