Redebeitrag anlässlich des Gedenkens an Mehmet Turgut

Am 25. Februar 2004 ermordete der NSU Mehmet Turgut in Rostock-Toitenwinkel. Bei der Gedenkkundgebung 2023 haben wir folgenden Redebeitrag gehalten.

Die Ermordung von Mehmet Turgut jährt sich heute zum 19. Mal. Wir erinnern an ihn, der in Rostock zu Hause war und hier in Toitenwinkel in einer Imbissbude gearbeitet hat. Hier haben ihn die Mörder des NSU aufgesucht und mit der Ceska, der vorher schon vier andere Menschen zum Opfer gefallen sind, das Leben genommen.

Es hat weitere acht Jahre gedauert bis die Tat als das anerkannt wurde, was sie war: Ein Akt rassistischen Terrors. Die Selbstenttarnung des NSU 2012 hat in Rostock und den anderen Täterstädten Dortmund, Hamburg, Kassel, München und Nürnberg das Versagen der sog. Sicherheitsbehörden offensichtlich gemacht. Dass Polizist:innen, sog. Verfassungsschützer:innen und Kriminalbeamte in ausnahmslos allen Fällen von organisierter Kriminalität, Drogen oder Geldwäsche ausgegangen sind, offenbart nicht nur die individuellen rassistischen Weltbilder der Beamtinnen, die in den Fällen ermittelt haben - es zeigt auch eindrücklich den institutionellen Rassismus der deutschen Behörden. Hier in Rostock wurde der Fall nach nur einer Woche ad acta gelegt. Es sei kein Hinweis auf eine "ausländerfeindliche Tat" zu finden gewesen.

Wir sprechen heute über Mehmet. Sein Leben, seine Familie und seine Erinnerung stehen im Zentrum dieser Gedenkkundgebung. Doch Erinnern steht nicht für sich. Wir sind Teil des Bündnisses „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“, das sich zu den 30. Jahrestagen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen gegründet hat. Letztes Jahr haben wir mit dem Gedenken an Mehmet das Gedenkjahr eröffnet und uns der Kernforderung der Angehörigen und Überlebenden des rechtsterroristischen Anschlages von Hanau angeschlossen: Erinnern heißt verändern.

Ganzen Redebeitrag anzeigen

Die Täter sollen bestraft werden, und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden.

Redebeitrag der Initiative "Mord verjährt nicht" beim Gedenken an das Pogrom in Lichtenhagen 2023

Keine zwölf Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen wurde in Toitenwinkel Mehmet Turgut Opfer eines rassistischen Mordes. Am 25. Februar 2004 wurde er vom rechten Terrornetzwerk „NSU“ ermordet.

Mehmet Turgut wurde 1977 in Kayalık, im Süden der Türkei, geboren. Schon als Jugendlicher versuchte Mehmet Turgut, nach Deutschland zu kommen, um sich hier eine Existenz aufzubauen. Sein Bruder Mustafa berichtet darüber:
„Memo – so nannten wir meinen großen Bruder Mehmet. Ich war 12 Jahre alt, als er in Deutschland ermordet wurde. […] Wir hatten […] nur wenig gemeinsame Zeit miteinander, denn Memo war häufig in Deutschland. Seine Stimme hörte ich oft nur durchs Telefon. Deutschland war wie ein Sog für ihn. Er hatte keine Arbeitserlaubnis dort, keine Aufenthaltserlaubnis. Er wurde abgeschoben und kehrte doch immer wieder dorthin zurück. Ich glaube, dass es ihm nicht sehr gut ging, dort. Und doch bedeutete Deutschland für ihn Hoffnung.“
Ganzen Redebeitrag anzeigen
Nach mehreren Abschiebungen arbeitete Mehmet Turgut 2004 im Imbiss eines Freundes in Rostock. Am Morgen des 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut an seinem Arbeitsplatz in Toitenwinkel erschossen. Für seine Familie in der Türkei war schnell klar, wer als Täter in Frage kommt. Darüber berichtet Mustafa Turgut:
„Mein Vater hatte zuvor ja einige Zeit in Deutschland gearbeitet. Er kannte Ausländerfeindlichkeit. Er war sich sicher: Das waren bestimmt die Kahlköpfe. […] Wir hatten keine andere Erklärung, doch keiner hat uns geglaubt. Das war das Schlimmste. Nur mein Vater war sicher: Es waren die Neonazis und eines Tages kommt die Wahrheit heraus.“ 
Die deutsche Polizei ignorierte dennoch Rassismus als ein mögliches Tatmotiv und ermittelte gegen die Familie. Mustafa Turgut beschrieb diese Zeit später als einen „Alptraum für die Familie“. Erst mit der Selbstenttarnung des Terrornetzwerks „NSU“ mussten auch die Ermittlungsbehörden und der deutsche Staat den Hintergrund der Tat anerkennen.
Die Neonazis des Terrornetzwerks, die insgesamt zehn Menschen ermordeten und unzählige Verletzten, gehören zur sogenannten „Generation Lichtenhagen“. Sie waren Anfang der 1990er großgeworden. In Ostdeutschland hatten sie die Erfahrung gemacht, mit rassistischer Gewalt wie in Lichtenhagen den Willen der schweigenden Mehrheit zu erfüllen und für ihre Gewalttaten vom Staat keine Konsequenzen fürchten zu müssen. Mit diesem Selbstbewusstsein und mithilfe der Netzwerke, die Anfang der 1990er Jahre entstanden waren, ermordeten sie zwölf Jahre nach dem Pogrom in Lichtenhagen Mehmet Turgut.
Der Mord an Mehmet Turgut und das Pogrom in Lichtenhagen sind aber nicht nur über die Täter*innen und ihre rassistische Motivation miteinander verbunden. Die beiden Gewalttaten machen auch deutlich, dass „Erinnern“ nicht immer auch „Verändern“ bedeuten muss. Im vergangenen Jahr haben wir auf der großen Demonstration zu den 30. Jahrestagen des Pogroms in Lichtenhagen die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg gefordert. Bis heute ist dieser bescheidene Wunsch der Familie nach der Umbenennung eines keine zweihundert Meter langen Weges nicht umgesetzt. 
Erinnern an rechte Gewalt lässt sich nicht daran messen, wie viele Politiker*innen bei offiziellen Anlässen Blumen ablegen oder wie viele Kamerateams vor Ort sind. Erinnern an rechte Gewalt lässt sich nur an konkreten Veränderungen messen. Es muss sich daran messen lassen, ob die Forderungen der Betroffenen erfüllt sind und daran, wie viel dafür getan wurde, damit sich die rechte Gewalt nicht wiederholen kann. Mustafa Turgut hat dies so formuliert:
„Mein Bruder und die anderen Opfer werden nicht wieder zurückkommen, aber wir wünschen uns alle, dass wir unsere Antworten bekommen. Die Täter sollen bestraft werden, und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden. Wir wünschen uns umfassende Aufklärung. Wir wünschen uns, dass so etwas in Deutschland nie wieder passiert.“
Die Erinnerung an rechte Gewalt darf nicht bei ritualisierten Medienevents stehenbleiben. Wir müssen gemeinsam mit den Betroffenen für ihre Forderungen kämpfen: für die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg! Gegen rassistische Gesetze! Für die umfassende Aufklärung des NSU-Komplex!

Hier findet ihr drei Plakate zum Selbstausdrucken, die an die drei Todesopfer rechter Gewalt in MV seit 1990 mit Fluchtgeschichte erinnern: Dragomir Christinel, Mehmet Turgut, Mohammed Belhadj.

Plakate zum Download (hier klicken)

Wir sehen eine Verbindungslinie zwischen den Pogromen und Überfällen zu Beginn der 90er Jahre über die Gewalt in den 2000ern, u.a. das Terrornetzwerk NSU, und die Attenate von heute hin zu institutionellem Rassismus. Institutioneller Rassismus in Behörden und Polizeien bereitet den Weg für organisierte Gewalt und Morde. So lange sie auf dem rechten Auge blind bzw. teilweise sogar involviert sind, haben Rassisten nicht genug Konsequenzen zu befürchten.